Stromverletzungen bei Trainsurfern und Arbeitsunfällen: neueste Erkenntnisse
Autorin:
Dr. Viktoria König
Universitätsklinik für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie
Medizinische Universität Wien
E-Mail: viktoria.koenig@meduniwien.ac.at
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Hochspannungsverletzungen zählen zu den schwersten und komplexesten Verletzungsformen in der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie. Sie kombinieren thermische, elektrische und mechanische Schäden und führen häufig zu lebensbedrohlichen Verletzungen sowie Multiorganversagen.
Keypoints
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Hochspannungsverletzungen unterscheiden sich grundlegend von klassischen thermischen Schwerbrandverletzungen, sowohl hinsichtlich Pathophysiologie, Organbeteiligung und Komplikationsmuster wie auch im klinischen Verlauf.
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Der Stromüberschlag erfolgt dabei meist nicht durch direkten Kontakt, sondern über einen Lichtbogen, der bereits bei einer Annäherung von mehreren Metern überspringen kann.
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Hochspannungsverletzungen zeigen ein charakteristisches Verletzungsmuster mit einer deutlich erkennbaren Stromeintritts- und -austrittsstelle, die meist von ausgedehnten subkutanen Gewebsnekrosen umgeben ist.
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Hochspannungsverletzungen führen nicht nur zu lokalen thermischen Schäden, sondern sind komplexe, systemische Krankheitsbilder mit Multiorganbeteiligung.
Besonders tragisch sind jene Fälle, die durch sogenanntes Trainsurfing oder Trainclimbing verursacht werden – riskante Mutproben, bei denen Jugendliche auf geparkte oder fahrende Züge klettern und dabei in den Gefahrenbereich von Oberleitungen geraten.
Der Stromüberschlag erfolgt dabei meist nicht durch direkten Kontakt, sondern über einen Lichtbogen, der bereits bei einer Annäherung von mehreren Metern überspringen kann. In Österreich führen die Bahnoberleitungen eine Spannung von rund 15000 Volt – zum Vergleich: Eine gewöhnliche Haushaltssteckdose liefert lediglich 230 Volt. Diese Entladungen von Lichtbögen erreichen Temperaturen von mehreren Tausend Grad Celsius und verursachen innerhalb von Sekunden tiefreichende Verbrennungen und Schäden an inneren Organen.
Auf der Intensivstation für Schwerbrandverletzte am AKH Wien/MUW werden jährlich etwa ein bis zwei Patient:innen mit Hochspannungsverletzungen behandelt, wobei es in den letzten Jahren immer wieder zu Häufungen unter sogenannten Trainsurfern gekommen ist. Diese Zahlen erfassen allerdings nur die Fälle, die das Krankenhaus lebend erreichen – Patient:innen, die unmittelbar an der Unfallstelle versterben, bleiben in der Statistik unberücksichtigt, sodass von einer deutlich höheren Dunkelziffer auszugehen ist.
Im Rahmen einer retrospektiven Analyse wurden über einen Zeitraum von 30 Jahren insgesamt 102 Patient:innen mit Hochspannungsverletzungen untersucht – darunter 32 Fälle infolge von Trainsurfing- oder -climbing-Unfällen. Drei aktuelle Studien unserer Arbeitsgruppe beleuchten diese Fälle im Vergleich zu klassischen, arbeitsbedingten Hochspannungsverletzungen. Das Ergebnis: Trainsurfing-Verletzungen sind eine eigenständige Entität – schwerer, komplexer und mit deutlich höheren Raten an Organversagen und kardialen Komplikationen.
Epidemiologie und Stromflussmuster
Während Arbeitsunfälle typischerweise erwachsene Männer mittleren Alters betreffen, sind die Betroffenen beim Trainsurfing fast ausschließlich männliche Jugendliche (Medianalter 19 Jahre). Die thermischen Verletzungen waren in dieser Gruppe deutlich ausgeprägter (%TBSA 47,6% vs. 25,4%; [TBSA: „total body surface ara“, Ausmaß der verbrannten Körperoberfläche], ebenso der ABSI-Score 6,7 vs. 5,3; [ABSI: „abbreviated burn severity index“, Schweregrad und Prognose thermischer Verletzungen]).
Klassischerweise zeigen Hochspannungsverletzungen ein charakteristisches Verletzungsmuster mit einer deutlich erkennbaren Stromeintritts- und -austrittsstelle, die meist tief verbrannt und von ausgedehnten subkutanen Gewebsnekrosen umgeben ist (Abb.1–3). Die Stromflussrichtung zeigte ein charakteristisches Muster: Bei Trainsurfern verlief der Strom überwiegend vertikal, also vom Kopf zu den Beinen, da der Lichtbogen auf den höchsten Punkt des Körpers überspringt. Bei arbeitsbedingten Unfällen lag meist ein diagonaler Stromfluss vor – etwa von der Hand zum gegenüberliegenden Fuß –, da der Kontakt über Werkzeuge oder Kabel erfolgte.
Abb. 1: Patient 1: Nekrose im Bereich des Hinterkopfes. Defektdeckung mittels freier Serratus-anterior-Lappenplastik, anastomosiert an die A. temporalis superficialis, sowie zusätzlicher Spalthauttransplantation
Abb. 2: Patient 2: Deckung einer Stromaustrittsläsion an der rechten unteren Extremität mittels freier Latissimus-dorsi-Lappenplastik, anastomosiert an die A. tibialis anterior, ergänzt durch Spalthauttransplantation
Abb. 3: Patient 3: Ausgedehnte Nekrose der Kopfhaut und Schädelkalotte. Rekonstruktion der Kalotte mittels Palacos® durch die Neurochirurgie; Weichteildeckung mittels freier Latissimus-dorsi-Lappenplastik, anastomosiert an die A. temporalis superficialis, sowie zusätzliche Spalthauttransplantation
Diese unterschiedlichen Strompfade scheinen maßgeblich zu den ausgeprägten Unterschieden im klinischen Verlauf beizutragen, auch wenn der genaue Mechanismus bislang nicht vollständig geklärt ist.
Systemische Komplikationen und kardiale Beteiligung
Hochspannungsverletzungen führen nicht nur zu lokalen thermischen Schäden, sondern sind komplexe, systemische Krankheitsbilder mit Multiorganbeteiligung. Neben der kutanen Komponente sind insbesondere Myokard, Skelettmuskulatur und Nieren betroffen. Der hohe Energieeintrag verursacht eine ausgeprägte Rhabdomyolyse mit konsekutiver Myoglobinurie, die in vielen Fällen zu einem akuten Nierenversagen bis hin zur Dialysepflichtigkeit führt.
Darüber hinaus treten häufig sekundäre Traumata infolge des Unfallmechanismus auf: Stürze vom Zug oder Kollisionen mit Brücken können zu Schädel-Hirn-Traumata, intrazerebralen Blutungen, Wirbelsäulen- oder Extremitätenfrakturen führen. Diese Kombination aus thermischer, elektrischer und mechanischer Schädigung erklärt das schwere Krankheitsbild mit entsprechend hoher Komplikationsrate und die nicht selten letalen Verläufe bei diesen Patient:innen.
Bemerkenswert ist, dass die unfallchirurgischen Begleitverletzungen – etwa Frakturen oder Schädeltraumata – nur in geringem Maße zum deutlich schwereren Gesamtbild der Trainsurfer beitragen; entscheidend scheinen vielmehr die kardialen und systemischen Effekte des vertikalen Stromflusses zu sein.
In unserer Kohorte gab es Reanimationen bei 43,8% der Trainsurfer im Vergleich zu 15,7% bei Arbeitsunfällen. Akutes Nierenversagen wurde bei 44% der Trainsurfer beobachtet (vs. 21,4%; p=0,031), und Dialysepflicht bestand bei 34,4% (vs. 15,7%; p=0,022). Die Mortalität war mit 25% mehr als doppelt so hoch wie bei den arbeitsbedingten Hochspannungsverletzungen (11,4%).
Besonders auffällig war die kardiale Komponente. Bereits in der Akutphase zeigten mehr als die Hälfte aller Patient:innen pathologische EKG-Veränderungen (51%), vor allem Sinustachykardien, Leitungsstörungen und Arrhythmien. In der Trainsurfing-Gruppe fanden sich zudem signifikant höhere Werte sämtlicher kardialer Biomarker:
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Kreatinkinase (CK): Median 520U/L vs. 36U/L (p<0,001)
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Myoglobin: 147µg/L vs. 25µg/L (p<0,001)
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Troponin: 27ng/mL vs. 6,5ng/mL (p<0,001)
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CK-MB: 26U/L vs. 10U/L (p<0,001)
Auch zehn Tage nach dem Trauma blieben diese Werte signifikant erhöht, was auf eine anhaltende kardiale Belastung und Myokardschädigung hinweist. Diese biochemischen Befunde korrelierten eng mit den klinischen Outcomes: Hohe CK- und Troponin-Spiegel traten fast ausschließlich bei Patient:innen auf, die auch kardiale Ereignisse oder ein Multiorganversagen entwickelten.
Trainsurfer zeigten signifikant erhöhte LDH-Werte (Median 612U/L vs. 182U/L; p=0,042), die auch nach zehn Tagen deutlich höher waren (p=0,035), was das Ausmaß der Zell- und Gewebsdestruktion widerspiegelt. Ein erhöhter LDH-Spiegel – insbesondere in Kombination mit einem hohen ABSI-Score – scheint, ähnlich wie in aktuellen Verbrennungsstudien, einen relevanten prognostischen Marker für Gewebeschaden, akutes Nierenversagen und Mortalität darzustellen.
Interessanterweise zeigen Patient:innen mit Hochspannungsverletzungen in unserem Kollektiv keine relevanten kardialen Komplikationen – vermutlich begünstigt durch das vergleichsweise junge Alter der Betroffenen. Intensivmedizinisch im Vordergrund steht hingegen die ausgeprägte Muskelnekrose mit ihren Folgen für die Nierenfunktion (Crush-Niere). Entscheidend sind eine forcierte Diurese, Harnalkalisierung und ausreichende Flüssigkeitssubstitution.
Rekonstruktive Herausforderungen
Die chirurgische Versorgung dieser Patient:innen erfordert ein hochspezialisiertes, interdisziplinäres Vorgehen. Nahezu alle Betroffenen benötigten multiple Operationen – im Schnitt mehr als fünf pro Fall. Fasziotomien wurden standardmäßig in über 80% der Fälle durchgeführt, um drohende Kompartmentsyndrome zu vermeiden; nur in Ausnahmefällen mit geringem Grad an thermischer und muskulärer Beteiligung konnte auf diesen Eingriff verzichtet werden. Leider sind aufgrund der ausgeprägten Verbrennungstiefe und der ausgedehnten Gewebsnekrosen bei Hochspannungsverletzungen oft Amputationen unumgänglich.
Für die Defektdeckung kamen meist Spalthauttransplantationen und freie Lappenplastiken (z.B. Latissimus dorsi, ALT, Gracilis) zum Einsatz. Besonders nach vertikalen Stromflüssen waren komplexe Rekonstruktionen mit freien Lappenplastiken erforderlich. Der durchschnittliche Intensivaufenthalt betrug bei Trainsurfern fast 40 Tage – doppelt so lange wie bei Arbeitsunfällen.
Prävention – die wichtigste Therapie
So beeindruckend die intensivmedizinischen Fortschritte sind, entscheidend bleibt die Prävention. Trainsurfing ist keine harmlose Mutprobe, sondern eine lebensgefährliche Grenzüberschreitung mit bleibenden Folgen – Amputationen, Narben, psychische Traumata und dauerhafte Invalidität sind häufig.
Gezielte Aufklärungskampagnen an Schulen, auf Social-Media-Plattformen, in Rahmen von Kooperationen mit Bahngesellschaften könnten viele dieser Unfälle verhindern. Die ÖBB haben bereits eine eigene Aufklärungskampagne gestartet, um Jugendliche für die lebensgefährlichen Risiken des Trainsurfings zu sensibilisieren. Dennoch bleibt eine breitere öffentliche Bewusstseinsbildung dringend notwendig, um die unsichtbare Gefahr der Hochspannung nachhaltig ins Bewusstsein zu rücken.
Fazit
Hochspannungsverletzungen unterscheiden sich grundlegend von klassischen thermischen Schwerbrandverletzungen – sowohl hinsichtlich Pathophysiologie, Organbeteiligung und Komplikationsmuster als auch im klinischen Verlauf. Trainsurfing- und -climbing-Verletzungen stellen dabei eine besonders schwierige Subgruppe dar: Sie betreffen vorwiegend Jugendliche, entstehen durch Lichtbogenüberschläge mit meist vertikalem Stromfluss und sind mit deutlich höheren Raten kardialer, renaler und letzlich oft letaler Komplikationen assoziiert.
Drei Jahrzehnte klinischer Erfahrung zeigen: Nur durch enge interdisziplinäre Zusammenarbeit kann diesen Patient:innen optimal geholfen werden. Noch wichtiger jedoch: Prävention – jede verhinderte Starkstromverletzung ist zugleich die wirksamste Form der Behandlung.
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