„Wöchentliche Insuline könnten das Alltagsmanagement wesentlich ändern“
Unser Gesprächspartner:
Univ.-Prof. Dr. Thomas C. Wascher
Fachbereich Diabetes
1. Medizinische Abteilung
Hanusch-Krankenhaus, Wien
Präsident der Diabetes Initiative Österreich
E-Mail: thomas.wascher@oegk.at
Das Interview führte
Reno Barth
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Von 9. bis 13. September fand in Madrid das 60. Annual Meeting der European Association for the Study of Diabetes (EASD) statt. Wir sprachen mit Univ.-Prof. Dr. Thomas C. Wascher, Leiter des Bereiches Diabetologie, Endokrinologie & Stoffwechselerkrankungen an der 1. Medizinischen Abteilung des Hanusch-Krankenhauses in Wien, über seine persönlichen Kongresshighlights.
Herr Univ.-Prof. Dr. Wascher, was waren Ihre Highlights am diesjährigen EASD-Kongress?
T. C. Wascher: Mein persönliches Highlight war gleich zu Beginn der Konferenz die „Claude Bernard Lecture“, die in diesem Jahr Roy Taylor gehalten hat. Der Claude-Bernard-Preis ist so etwas wie ein Nobelpreis für Diabetologie und die zugehörige „Lecture“ wird vom Preisträger des Jahres gehalten. Das bedeutet natürlich, dass die „Lecture“ nicht nur aus neuen Informationen besteht, denn der Preis wird für die Arbeit von Jahren und Jahrzehnten vergeben. Im Falle von Taylor ist das die „Twin Cycle“-Hypothese zur Entstehung des Typ-2-Diabetes. Diese Hypothese beleuchtet die Interaktion von Genetik und Umwelt in der Ätiologie des Diabetes paradigmatisch. Das besonders Schöne daran ist, dass Taylor damit nicht im theoretischen Bereich geblieben ist, sondern sich auch mit seinen Gewichtsreduktionsstudien um die klinische Bestätigung der Ätiologie bemüht hat. Dabei handelte es sich um ganz einfache, praxisnahe Studien.
Was besagt die „Twin Cycle“-Hypothese?
T. C. Wascher: Ganz einfach gesprochen besagt sie, dass in einem ersten Schritt durch zuviel Energiezufuhr die Leber überfordert wird. Das führt zu erhöhten Triglyzerid- und Insulinspiegeln sowie ektopem Fett. Im zweiten Schritt wird dadurch das Pankreas überfordert.
Und welche Rolle spielen hier die Gene?
T. C. Wascher: Die Gene legen fest, wie viel Leber und Pankreas aushalten. Bei manchen Menschen führt eine stark überhöhte Kalorienzufuhr zwar zu Übergewicht, der Stoffwechsel in der Leber ist aber so stabil, dass es nicht zur Überforderung mit den entsprechenden Folgen kommt. Umgekehrt kann es bei einem sensitiven Leber-„Circle“ schon bei einer relativ geringen Überlastung zur Bildung von ektopem Fett und allen folgenden pathologischen Prozessen samt Entstehung von Diabetes kommen. Das erklärt umgekehrt auch, warum Menschen mit Typ-2-Diabetes auch dann von Gewichtsreduktion profitieren, wenn sie nicht stark übergewichtig sind.
Über welches weitere Highlight in Madridkönnen Sie berichten?
T. C. Wascher: Über die Session zu MASLD – die Metabolic Dysfunction-Associated Steatotic Liver Diseases, zu denen kürzlich eine neue Leitlinie publiziert wurde. Auch hier wird die kalorische Zufuhr immer besser als das zentrale Problem verstanden. Es gab in diesem Jahr einen sehr schönen Review von Michael Roden, der die Frage „Is it always weight reduction?“stellt und zu dem Ergebnis gelangt: „Yes, it is always weight reduction.“ Da kommen die beiden Ansätze von Taylor und Roden zusammen. Bei Taylor geht es ja zunächst um Fett in der Leber, das bei einer bestimmten genetischen Disposition zu Diabetes führt. Bei anderer genetischer Disposition verursacht das Fett in der Leber aber eine zunehmende Steatohepatitis mit all ihren Folgen, die bis zu Zirrhose und zum Leberkarzinom führen können. Es kann mit Diabetes in Verbindung stehen, muss aber nicht. Es gibt Diabetes ohne MASLD genauso wie MASLD ohne Diabetes. Die Grundlage ist in beiden Fällen ein Überschuss an Energiezufuhr.
Gibt es bereits Daten, wie dieser genetische Hintergrund von MASLD und Diabetes aussieht?
T. C. Wascher: Kann sein, dass es Daten gibt, mir sind sie jedenfalls nicht bekannt. Es wurde im Rahmen des Kongresses wenig über Genetik und genomweite Assoziationsstudien gesprochen. Ich denke, es gab da eine Zeitlang einen gewissen Hype, dass man dachte, man wird das eine Gen finden, das alles erklärt. Aber die Zusammenhänge sind so komplex. Diabetes ist eine multifaktorielle Erkrankung, sodass sich diese Erwartungen nicht erfüllt haben.
Und was sagen Sie zu polygenetischen Risikoscores?
T. C. Wascher: Die Frage ist, was für Vorteile polygenetische Risikoscores bringen sollen. Die meisten Informationen bekommt man in aller Regel aus der Familienanamnese. In erster Linie stellt sich die Frage, was man Betroffenen mit positiver Familienanamnese raten soll. Diabetesprävention bedeutet, auf sein Gewicht zu schauen und ausreichend Bewegung zu machen. Es gibt eigentlich niemanden, dem man das nicht empfehlen würde. Ein hoher Risikoscore könnte allenfalls zusätzlich motivierend wirken.
Wie sind die Chancen, mit den heute verfügbaren Mitteln dauerhaft Gewicht abzunehmen?
T. C. Wascher: Wenn wir jetzt nur von Medikamenten reden, so sehen wir mitGLP-1-Analoga doch substanzielle Gewichtsreduktionen. Neu auf dem Markt ist mit Tirzepatid der erste duale Agonist, der in Studien sowohl hinsichtlich Glukosesenkung als auch Gewichtsreduktion Semaglutid überlegen war. Mit allen diesen Inkretinmimetika nehmen Betroffene gut bis extrem gut ab. Der Nachteil ist: Mit dem Absetzen kommt es wieder zur Gewichtszunahme, es gibt keinen nachhaltigen Effekt. Werden diese Substanzen wegen Diabetes eingesetzt, dann ist das nicht so wichtig, weil Diabetes ohnedies lebenslange Therapie bedeutet. Aber wenn es nur um die Gewichtsreduktion geht, dann ist das ein Problem. Es gibt leider keinerlei Daten zur Frage, ob eine Erhaltungstherapie mit einer niedrigeren Dosis oder größeren Dosisintervallen wirksam wäre. Dazu wären Studien sinnvoll, jedoch realistisch betrachtet werden das akademische Studien sein müssen, denn die Hersteller haben daran kein Interesse.
Gibt es wichtige Neuerungen im Bereich der Therapie?
T. C. Wascher: Mein Highlight sind hier die einmal wöchentlichen Insuline. Icodec ist bereits zugelassen, Efsitora dürfte bald zugelassen werden und auf dem Kongress haben wir noch von einem chinesischen Produkt gehört. Ich denke, dass diese Insuline im Rahmen der basal unterstützten oralen Therapie (BOT) bei Typ-2-Diabetes eine wichtige Rolle einnehmen werden. In der intensivierten Insulintherapie, egal bei welcher Diabetesform, sehe ich die einmal wöchentlichen Insuline zukünftig weniger. Dafür sind sie zu unflexibel und nicht von Tag zu Tag steuerbar. Aber eine einfache Therapie des Typ-2-Diabetes könnte in Zukunft aus einem einmal wöchentlichen GLP-1-Analogon und einem einmal wöchentlichen Insulin bestehen. Das könnte das Alltagsmanagement für Betroffene erheblich erleichtern. Ein täglicher GLP-1-RA und ein tägliches Basalinsulin ergeben 14 Spritzen in der Woche. Wenn man diese Anzahl auf zwei Spritzen reduzieren kann, dann ist das ein großer Gewinn.
Und wie steht es um die Sicherheit der 1xwöchentlichen Insuline?
T. C. Wascher: In den bisher vorgestellten Studien verursachen wöchentliche Insuline zumindest beim Typ-2-Diabetes nicht mehr Hypoglykämien als die täglichen Insuline. Das trifft auch auf Patienten zu, die zusätzlich mit GLP-1-Analoga behandelt werden. Bei Typ-1-Diabetes kommt es etwas häufiger zu Hypoglykämien, allerdings sehe ich für diese langwirksamen Insuline in dieser Indikation keine Zukunft. Die modernen, intelligenten Pumpen sind mittlerweile so gut, dass es schon einen sehr guten Grund braucht, Insulin noch über den Pen zu applizieren. Bei Typ-1-Diabetes braucht man Flexibilität.
Was sagen Sie zu dem von einer britischen Gruppe vorgestellten Prädiktionsmodell zur Auswahl der antidiabetischen Medikation?
T. C. Wascher: Das ist ein interessanter Ansatz, der aus meiner Sicht allerdings ein paar Limitationen hat. Zunächst geht es dabei um die Wahl des ersten Medikaments zusätzlich zu oder nach Metformin. Das ist im allgemeinmedizinischen Bereich relevant, aber in der diabetologischen Praxis oder an den Zentren spielt diese Fragestellung eine untergeordnete Rolle, weil praktisch alle Patienten Kombinationstherapien benötigen. Dazu liefert der Score keine Information. Außerdem werden gemäß den Leitlinien bei der Wahl einer antidiabetischen Therapie häufig Komorbiditäten wie zum Beispiel eine Nieren- oder Herzinsuffizienz berücksichtigt. Das kann der Score nicht abbilden. Darüber hinaus war in einer Wirksamkeitsanalyse, auf der dieser Score beruht, Semaglutid nicht enthalten. Allerdings bekommt man aus dieser Arbeit auch einige nützliche Informationen. Zum Beispiel die, dass die DPP-4-Inhibitoren für praktisch keine Patientengruppe mehr erste Wahl sein sollten. Dafür zeigt der Score, dass in manchen Situationen die verteufelten Sulfonylharnstoffe eine gute Wahl sein können und zwar bei Männern mit langer Diabetesdauer. Das entspricht genau meiner Erfahrung. Sobald es in Richtung Insulin geht, dann ist es oft möglich, mit einem Sulfonylharnstoff eine Insulintherapie noch ein paar Jahre hinauszuzögern. Wenn man vernünftig dosiert, ist das Hypoglykämierisiko dabei auch nicht hoch und sicher niedriger als mit Insulin.
Haben Sie die Ergebnisse der GDAC-Studie gesehen und halten Sie sie für relevant?
T. C. Wascher: Wir haben häufig das Problem, dass wir Diskrepanzen sehen zwischen dem HbA1c,der aus dem Labor bestimmt wurde, und den Glukosewerten der Patienten, die mit einem Sensor gemessen wurden. Dieser liefert ja die mittlere Glukose, darüber hinaus aber auch den Diabetesmanagement-Indikator – anders gesagt: das vom Sensor geschätzte HbA1c. Nun hat man versucht, einen Glykierungsfaktor zu definieren, mit dem die Umrechnung von Glukose in HbA1c korrigiert werden kann. Dieser Faktor dürfte eine individuelle Größe sein, dabei aber über das gesamte Leben oder zumindest über lange Zeit stabil bleiben. Das entspricht sehr gut den klinischen Alltagserfahrungen. Mit dem persönlichen Glykierungsfaktor kann man für den individuellen Patienten ausrechnen, welche Durchschnittsglukose sein HbA1c bedeutet. Im Vergleich zur konventionellen Umrechnung mit der Regressionsformel reduziert dieser Faktor die Streuung um 40%, wobei vor allem Ausreißer nach unten wegfallen.
Wie wird das die klinische Praxis verändern?
T. C. Wascher: Wenn der Patient keinen Sensor trägt, wird der Behandelnde keine Diskrepanz bemerken. Wenn er aber einen Sensor trägt und die Sensordaten passen nicht zum HbA1c, dann wird man irgendwie reagieren müssen. Und damit werden sich in nächster Zeit auch die Fachgesellschaften beschäftigen müssen und den Behandelnden mit Ratschlägen zur Seite stehen. Das ist relevant. Wir orientieren uns ja in unseren Entscheidungen am HbA1c-Wert. Dabei verursacht jedoch die Glukose die Probleme. Die Glukose richtet den Schaden bei Diabetes an. Es wird ein hoher Aufwand mit Laborringversuchen betrieben, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse, die aus den Labors kommen, auch verlässlich sind. Dass es hier jedoch eine große Variabilität zwischen individuellen Patienten gibt, ist vielen nicht bewusst.
Vielen Dank für das Interview!
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