
Besonderheiten in Symptomatik, Schwangerschaft und Stillzeit bei Frauen mit ADHS: Diagnostik und Therapie
Autor:innen:
Prim. Priv.-Doz. DDr. Thomas Vanicek1
Priv.-Doz. DDr. Anna Höflich2
1 Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin
Klinik Floridsdorf, Wien
2 Klinische Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin
Universitätsklinikum Tulln
E-Mail: thomas.vanicek@meduniwien.ac.at
Mädchen und Frauen mit ADHS erhalten seltener eine Diagnose, da sie weniger durch auffälliges oder externalisierendes Verhalten in Erscheinung treten. Unbehandelt kann ADHS jedoch zu vermehrten psychischen Komorbiditäten, chronischem Leidensdruck und erheblichen Einschränkungen im Alltag führen, weshalb eine frühzeitige Erkennung der Kernsymptomatik und die Einleitung einer multimodalen Behandlung essenziell sind.
Keypoints
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Unaufmerksamkeit, Überforderung und emotionale Labilität sind häufige, aber oft übersehene ADHS-Symptome bei Mädchen und Frauen.
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Ängste und depressive Symptome können ADHS bei Frauen überlagern und dürfen daher nicht vorschnell als primäre Störung fehlgedeutet werden.
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Bei Mädchen und Frauen mit ADHS sollte die Medikation bei hormonellen Veränderungen wie Menstruation, Schwangerschaft oder Menopause angepasst werden.
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In die Behandlung sollten psychosoziale Belastungen, emotionale Regulation und Alltagsfunktionen mit einbezogen werden.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine häufige neuronale Entwicklungsstörung, die in der Kindheit beginnt und bei einem Großteil der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt und zu Funktionsbeeinträchtigung führt. Die Kernsymptomatik umfasst Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und insbesondere im Kindesalter auch motorische Unruhe. Im Erwachsenenalter verändert sich das Erscheinungsbild häufig, wobei vor allem die Schwierigkeiten in der Aufmerksamkeitsregulation, emotionale Dysregulation, Organisationsprobleme und innere Unruhe in den Vordergrund rücken. Die Prävalenz bei Erwachsenen liegt bei 2–3%. Die Diagnostik basiert hauptsächlich auf einer umfassenden Anamnese, der retrospektiven Erfassung kindlicher Symptome und der Einschätzung aktueller Funktionsbeeinträchtigungen unter Berücksichtigung komorbider Störungen.
Die Ätiologie von ADHS ist multifaktoriell. Genetische Faktoren spielen eine zentrale Rolle, wobei die Heritabilität gemäß Zwillings- und Familiendaten bei 70–80% liegt. Gleichzeitig beeinflussen auch Umweltfaktoren wie pränatale Belastungen, frühe psychosoziale Erfahrungen oder chronischer Stress das Risiko, eine ADHS zu entwickeln oder deren Verlauf zu verschärfen. ADHS tritt häufig gemeinsam mit weiteren psychischen Störungen wie auch somatischen Komorbiditäten wie Schlafstörungen oder Adipositas auf. Viele dieser komorbiden Erkrankungen teilen genetische Risikofaktoren mit ADHS, was auf einen möglichen biologischen Overlap hinweist.
Geschlechtsspezifische Aspekte von ADHS
ADHS weist in Diagnostik, Symptomatik und Versorgung geschlechtsspezifische Unterschiede auf, die zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher und klinischer Betrachtung rücken. Untersuchungen zur geschlechtsspezifischen Ausprägung der ADHS-Symptomatik ergaben bei Mädchen im Kindesalter im Vergleich zu Buben geringere Ausprägungen von Hyperaktivität, jedoch ähnliche Ausprägungen von Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Gleichzeitig zeigten sie mitunter ein geringeres intellektuelles Funktionsniveau bei gleichzeitig weniger ausgeprägtem problematischem Verhalten. Im Verlauf der Jugend und des jungen Erwachsenenalters treten bei Frauen mit ADHS häufiger internalisierende Symptome wie Ängstlichkeit oder Depressionen sowie Essstörungen und selbstverletzendes Verhalten in den Vordergrund, während Männer häufiger impulsive und hyperaktive Verhaltensweisen zeigen, die mit Substanzkonsum und Substanzmissbrauch – insbesondere von Alkohol – einhergehen. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2024, basierend auf 52 Studien mit DSM-5-Diagnosen über alle Altersgruppen hinweg, zeigte geschlechtsspezifische Unterschiede mit stärker ausgeprägter Hyperaktivität und Impulsivität bei männlichen Teilnehmern. Unterschiede in der Unaufmerksamkeit zeigten sich erst im Erwachsenenalter, sie war ebenfalls bei Männern stärker ausgeprägt. Im Kindesalter dominierten hyperaktive Symptome bei Buben. Insgesamt waren die Effektgrößen gering, und in Studien mit klinischen Interviews konnten keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden. Studien weisen zudem darauf hin, dass vor allem ausgeprägte Hyperaktivität und Verhaltensprobleme mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu einer Diagnose und zu medikamentöser Behandlung führen, was die geringere Versorgung weiblicher Betroffener zusätzlich erklären könnte.
In Summe legen die Befunde nahe, dass ADHS bei Mädchen und Frauen nach wie vor unterdiagnostiziert ist und dass es spezifischer Behandlungsstrategien bedarf.
ADHS in der Schwangerschaft und Postpartalzeit
ADHS im gebärfähigen Alter sowie während Schwangerschaft und Stillzeit gewinnt zunehmend an klinischer Relevanz. In den letzten Jahren ist ein deutlicher Anstieg der Verordnung von ADHS-Medikamenten zu beobachten, insbesondere bei Frauen im reproduktiven Alter. Besonders stark zeigt sich dieser Trend in der Schwangerschaft: So stieg die Zahl der Verschreibungen innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches. Auch bei stillenden Frauen nahm die medikamentöse Behandlung deutlich zu. Dieser Zuwachs ist nicht nur in einzelnen Ländern, sondern international – etwa in skandinavischen Staaten und den USA – dokumentiert. Diese Entwicklung unterstreicht den zunehmenden Bedarf an differenzierter Beratung und Versorgung von Frauen mit ADHS in sensiblen Lebensphasen.
Therapie bei ADHS
Die Behandlung von ADHS im Erwachsenenalter sollte ebenso wie im Kindes- und Jugendalter auf einem umfassenden, multimodalen Therapiekonzept basieren. Dieses sollte verschiedene Interventionen kombinieren und idealerweise interdisziplinär umgesetzt werden. Zentrale Bestandteile sind Psychoedukation, Coaching, psychotherapeutische Verfahren – insbesondere in strukturierter, zielorientierter Form – sowie, abhängig vom Ausmaß der Symptomatik und Alltagsbeeinträchtigung, auch eine medikamentöse Behandlung. Eine Einbindung von Partner:innen, Angehörigen oder anderen Bezugspersonen kann zusätzlich zur Stabilisierung und Wirksamkeit der Therapie beitragen.
Zur medikamentösen Behandlung von ADHS werden bei Frauen sowie bei Männern vorrangig Stimulanzien wie Methylphenidat und Amphetaminpräparate sowie Nichtstimulanzien wie Atomoxetin oder Guanfacin empfohlen. Die Auswahl des Präparats erfolgt individuell unter Berücksichtigung von Wirksamkeit, Wirkdauer, Nebenwirkungsprofil, bestehenden Komorbiditäten, potenziellen Einflussfaktoren in Bezug auf die Adhärenz sowie den Präferenzen der Patient:innen bzw. ihrer Sorgeberechtigten.
Frauen mit ADHS sollten grundsätzlich die gleiche evidenzbasierte Behandlung wie Männer erhalten, angepasst an individuelle Bedürfnisse und Lebensumstände. Es gibt Hinweise darauf, dass ADHS-Medikamente bei manchen Patientinnen vor der Periode – im Rahmen des prämenstruellen Syndroms (PMS) oder der prämenstruellen dysphorischen Störung (PMDS) – sowie während der Menstruation eine geringere Wirksamkeit zeigen können. In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, die Dosis vorübergehend anzupassen, in der Regel durch eine moderat erhöhte Dosierung in der betroffenen Zyklusphase.
ADHS-Medikamente in der Schwangerschaft und Stillzeit
Schwangerschaft stellt für viele Frauen mit ADHS eine besondere Herausforderung dar. Die Zeit ist mit hohen Anforderungen hinsichtlich Planung und Organisation verbunden. ADHS Betroffene reagieren häufig sensibel auf subjektive kognitive Veränderungen. Zudem treten ungeplante Schwangerschaften und frühe Elternschaft in dieser Gruppe häufiger auf. Wird eine bereits etablierte medikamentöse Behandlung abgesetzt, kann dies zu einer Verschlechterung der ADHS-Symptomatik sowie der komorbiden affektiven Beschwerden führen.
Unter Berücksichtigung psychosozialer Faktoren, psychiatrischer Komorbiditäten und individueller Therapieziele wird eine multimodale Behandlung während der Schwangerschaft empfohlen. Eine frühzeitige Beratung und Planung – möglichst bei der Schwangerschaftsplanung – sowie die Einbindung des sozialen Umfelds und relevanter medizinischer Fachdisziplinen sind dabei sinnvoll. Nichtmedikamentöse Maßnahmen wie Psychoedukation, Selbstmanagement und Psychotherapie stehen bei leichteren Verläufen im Vordergrund. Nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung kann eine Kombination mit medikamentöser Therapie erforderlich und gerechtfertigt sein.
Auch wenn die verfügbare Evidenz derzeit noch begrenzt ist, deuten die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur medikamentösen Behandlung von ADHS in Schwangerschaft und Stillzeit auf ein insgesamt günstiges Sicherheitsprofil hin – insbesondere für Stimulanzien. Mehrere Studien fanden keine Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für kongenitale Fehlbildungen. Einzelne Untersuchungen zeigten eine leicht erhöhte Rate angeborener Herzfehler bei der Einnahme von Methylphenidat, wobei das Risiko nur geringfügig über dem allgemeinen Basisrisiko lag. Dieser Zusammenhang konnte in anderen Studien nicht bestätigt werden.
Für die Beurteilung der Sicherheit eines Medikaments in der Stillzeit wird die sogenannte relative Säuglingsdosis herangezogen. Diese ist definiert als die über die Muttermilch aufgenommene Dosis (mg/kg/Tag), relativ zur Dosis der Mutter (mg/kg/Tag); hier gilt 10% als theoretisch bedenkliche Grenze. Die Wirkstoffkonzentration in der Muttermilch hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter Substanzeigenschaften der eingenommenen Substanz, mütterliche Plasmakonzentration und -proteinbindung und pharmakogenomische Faktoren. Amphetamine gehen zwar in die Muttermilch über, zeigten in therapeutischer Dosierung bislang jedoch keine nachteiligen Effekte auf gestillte Kinder. Für Methylphenidat legen bisherige Daten nahe, dass nur ein sehr geringer Anteil in die Muttermilch übergeht und keine relevanten Wirkspiegel bei gestillten Säuglingen messbar sind. Stillen gilt daher nach aktueller Datenlage nicht als Kontraindikation für eine Behandlung mit Methylphenidat.
Literatur:
● Faraone SV et al.: Attention-deficit/hyperactivity disorder. Nat Rev Dis Primers 2024; 10(1): 11 ● Hartman CA et al.: Anxiety, mood, and substance use disorders in adult men and women with and without attention-deficit/hyperactivity disorder: A substantive and methodological overview. Neurosci Biobehav Rev 2023; 151: 105209 ● Kittel-Schneider S et al.: Parental ADHD in pregnancy and the postpartum period - A systematic review. Neurosci Biobehav Rev 2021; 124: 63-77 ● Kooij JJ et al.: Updated European Consensus Statement on diagnosis and treatment of adult ADHD. Eur Psychiatry 2019; 56: 14-34 ● Young S et al.: Females with ADHD: An expert consensus statement taking a lifespan approach providing guidance for the identification and treatment of attention-deficit/ hyperactivity disorder in girls and women. BMC Psychiatry 2020; 20(1): 404 ● Young S et al.: A systematic review and meta-analysis comparing the severity of core symptoms of attention-deficit hyperactivity disorder in females and males. Psychol Med 54(14): 1-22
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