
Digitale Zwillinge beim Prostatakarzinom
Autor:innen:
Priv.-Doz. Dr. Anette Duensing1,2
Univ.-Prof. Dr. Markus Hohenfellner1
Univ.-Prof. Dr. Stefan Duensing1,3
1 Urologische Universitätsklinik Heidelberg
2 Sektion Präzisionsonkologie
urologischer Tumore
3 Sektion Molekulare Uroonkologie
Digitale Zwillinge in der Medizin dienen der virtuellen Simulation eines Patienten auf der Basis multimodaler digitaler Daten. Gerade aufgrund der ausgeprägten inter- und intratumoralen Heterogenität des Prostatakarzinoms haben KI-Applikationen einschließlich digitaler Zwillinge das Potenzial, wichtige Bereiche wie Früherkennung, Diagnostik, Prognostik und Prädiktion des Therapieansprechens entscheidend zu verbessern.
Keypoints
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Digitale Zwillinge sind digitalisierte multimodale Daten eines Patienten generiert mithilfe von KI-Algorithmen, die zur virtuellen Simulierung des Patienten herangezogen werden.
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Mögliche Datenquellen sind klinisch-pathologische Parameter, Bildgebungsdaten sowie Daten von lokal operativen oder strahlentherapeutischen Behandlungen.
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Es können auch molekulare Daten aus Genomsequenzierungen sowie Genexpressionsanalysen integriert werden.
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„Deep learning“-Algorithmen spielen eine wichtige Rolle bei der Generierung digitaler Zwillinge.
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„Deep learning“-Algorithmen enthalten jedoch häufig „Black box“-Elemente, was zu ethischen Konflikten führen kann.
Das Konzept des digitalen Zwillings („digital twin“) beschreibt ein virtuelles Replikat einer realen Struktur bzw. eines Systems oder Prozesses, das diesen akkurat abbildet. Der Ursprung des digitalen Zwillings liegt in der industriellen Fertigung und ist durch einen bidirektionalen, automatisierten Datenaustausch mit der Real World definiert. Allerdings enthalten viele der gegenwärtig verfügbaren „Digital twin“-Modelle keine derartige Feedback-Komponente fürdie Real World.1
„Digital twins“ in der Medizin
„Digital twins“ sind in der Medizin zunächst als Modelle zu verstehen, bei denen digitalisierte Daten eines Patienten in einem adaptiven Prozess unter Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) zur virtuellen Simulierung des Patienten und seines individuellen Krankheitsverlaufs herangezogen werden. Während die Datengewinnung in der industriellen Fertigung in erster Linie über Sensoren und Konnektivität erfolgt, stehen in der Medizin andere Datenquellen zur Verfügung. Der Fokus liegt hier auf klinischen Patientenparametern, Labordaten, histopathologischen Daten (siehe auch digitale Pathologie) sowie longitudinalen Daten zum Krankheitsverlauf und Therapieansprechen.2 Daneben gehören auch Bildgebungsdaten zu den möglichen Datenquellen. Gerade beim Prostatakarzinom ist es auch wichtig, Daten, die bei einer lokalen Therapie generiert werden (z.B. bei einer roboterassistierten radikalen Prostatektomie oder einer Strahlentherapie), in den Gesamtdatensatz zu integrieren. Des Weiteren sollten Daten, die durch molekulare Untersuchungen wie z.B. Panel-, Exom- oder Ganzgenomsequenzierungen sowie Genexpressionsanalysen anfallen, in den „digital twin“ aufgenommen werden. Es wird aus dem oben Beschriebenen leicht ersichtlich, dass die gesammelten Datenmengen schnell durchaus enorme Volumina annehmen können („big data“).
Die nachfolgende Homogenisierung der gesammelten multimodalen Daten und deren virtuelle Modellierung sind die entscheidenden Schritte zur Generierung des „digital twin“. Hier kommen vorzugsweise Methoden der KI zum Einsatz, wobei sogenannte „Machine learning“- und „Deep learning“-Algorithmen im Mittelpunkt stehen.1 „Machine learning“-Algorithmen lernen von vorhandenen Datensätzen, die dann durch Generalisierung für neue Datensätze angewendet werden. Dahingegen bedienen sich „Deep learning“-Algorithmen neuronaler Netzwerke mit zunehmenden Stufen der Abstraktion. Insbesondere „Deep learning“-Algorithmen spielen eine wichtige Rolle bei der Generierung von „digital twins“. Es werden auch kombinatorische Ansätze von „deep learning“ und „machine learning“ verfolgt.1
KI-Applikationen und „digital twins“ beim Prostatakarzinom
Das Prostatakarzinom zeichnet sich durch eine ausgeprägte inter- und intratumorale Heterogenität aus. KI-Applikationen einschließlich „digital twins“ haben somit das Potenzial, wichtige Bereiche wie Früherkennung, Diagnostik, Prognostik und Prädiktion des Therapieansprechens entscheidend zu verbessern. Dabei ist ein breites Spektrum von KI-Applikationen denkbar, wobei zunächst relativ eng definierte Supportanwendungen zu nennen sind. Diese können zum Beispiel die Klassifikationen von MRT-Läsionen, eine Risikoabschätzung hinsichtlich des Einschlusses in die Active Surveillance, das Rezidivrisiko nach lokaler Therapie oder das Ansprechen auf eine Systemtherapie umfassen.3,4
Darüber hinaus ist auch eine möglichst umfassende Modellierung eines Patienten oder einer Patientenkohorte denkbar. Diese würde die dazugehörigen Krankheitsverläufe mit einbeziehen und bei Entscheidungsfindungsprozessen einschließlich Therapieempfehlungen und Auswahl klinischer Studien behilflich sein. Besonders wichtig könnten „digital twins“ mit dynamischem Datenaustausch zwischen Real World und virtuellen Modellen werden. Im Rahmen einer personalisierten Früherkennung könnte so nicht nur ein risikoadaptiertes Screening implementiert werden, sondern auch die Möglichkeit bestehen, individuelle Risikokonstellationen durch Lifestyle-Veränderungen des Patienten proaktiv zu modulieren.5
Ethische Aspekte
In Anbetracht der Tatsache, dass wir mit der Nutzung von KI in der Medizin größtenteils datenschutzrechtliches Neuland betreten, ist es wichtig, auf ethische Aspekte hinzuweisen.6 Zunächst sollten die für „digital twins“ benutzten Daten den sogenannten FAIR-Prinzipien („findable, accessible, interoperable, reusable“)7 sowie den aktuellen datenschutzrechtlichen Standards entsprechen.7 Dies stellt sicher, dass ein Widerruf der Datennutzung möglich bleibt. Des Weiteren müssen Medizin-spezifische rechtliche Aspekte und insbesondere die Arzt-Patienten-Kommunikation berücksichtigt werden. Die KI-basierte Entscheidungsfindung muss nachvollziehbar, transparent und verlässlich sein. Unvorhergesehene KI-Entscheidungen müssen einer Fehlersuche bzw. Optimierung zugänglich sein. Insbesondere „Deep learning“-Algorithmen stellen allerdings eine „black box“ dar, was zum Konzept der „explainable AI“ geführt hat.1 Gerade bei KI-Anwendungen in der Medizin ist letztere aus mehreren Gründen essenziell. Ärztliche Verantwortung schließt somit „Black box“-KI-Algorithmen aus. Darüber hinaus ist es wichtig, dass neuartige „Digital twin“-KI-Modelle in prospektiven Studien erprobt werden.
Ausblick
Neben „large language models“ ist zu erwarten, dass auch „digital twins“ zunehmend als Assistenzsysteme in die Diagnostik und das klinische „decision-making“ beim Prostatakarzinom einfließen. Gerade im Bereich Früherkennung könnten „digital twins“ zu einer Risikoadaptation beitragen. Effizienzsteigerung, Ressourcenschonung sowie eine Ausbalancierung von Personalisierung bei gleichzeitig unumgänglicher Standardisierung sind wichtige Motivatoren für diese sich abzeichnenden Entwicklungen.
Literatur:
1 Kreuzer T et al.: Artificial intelligence in digital twins—a systematic literature review. Data Knowl Eng 2024; 151: 102304 2 Eminaga O et al.: Critical evaluation of artificial intelligence as a digital twin of pathologists for prostate cancer pathology. Sci Rep 2024; 14(1): 5284 3 Schelb P et al.: Simulated clinical deployment of fully automatic deep learning for clinical prostate MRI assessment. Eur Radiol 2021; 31(1): 302-13 4 Kim JK et al.: Machine-learning-based digital twin system for predicting the progression of prostate cancer. Applied Sciences 2022; 12(16): 8156 5 Hernandez-Boussard T et al.: Digital twins for predictive oncology will be a paradigm shift for precision cancer care. Nat Med 2021; 27(12): 2065-6 6 Zuchowski LC et al.: A trust based framework for the envelopment of medical AI. NPJ Digit Med 2024; 7(1): 230 7 He Y: Development and applications of interoperable biomedical ontologies for integrative data and knowledge representation and multiscale modeling in systems medicine. Methods Mol Biol 2022; 2486: 233-44