Psychiatrie im Ukraine-Krieg

«Wir versuchen, gegenüber den Kindern ehrlich, aber auch sehr behutsam mit der Wahrheit zu sein»

Die Psychiaterin Roksolana Jurtschischin arbeitet im St.-Nikolaus- Kinderspital in Lwiw. Seit dem Kriegsausbruch behandelt sie mit ihren Kollegen täglich im Akkord traumatisierte Kinder. Im Gespräch erzählt sie von den Schicksalen traumatisierter Kinder und den besonderen Herausforderungen, vor die sie ihre Arbeit nun stellt.

Frau Jurtschischin, wie ist die Situation in Ihrer psychiatrischen Klinik in Lwiw?

R. Jurtschischin: Unsere Klinik ist voll. Täglich behandeln wir mehr als 30 Kinder und Jugendliche. Die Bevölkerung in Lwiw ist aufgrund des Krieges leicht angewachsen. Die Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben. Die Zahl der Fälle, die wir behandeln, hat sich verdreifacht. Die Warteliste beträgt ein bis zwei Monate.

Sind viele Kinder, die Sie behandeln, vor dem Krieg geflohen?

R. Jurtschischin: Mindestens die Hälfte unserer Patienten wurde durch den Krieg traumatisiert. Besonders diejenigen, die aus dem Osten der Ukraine kommen, wo die Kämpfe am heftigsten toben. Sie haben erlebt, wie russische Truppen Häuser und Schulen zerstörten.

Können Sie einen konkreten Fall schildern?

R. Jurtschischin: Derzeit behandeln wir ein 17-jähriges Mädchen aus Oleschky in der Region Cherson, das zusammen mit ihrer Familie mehr als ein Jahr lang unter russischer Besatzung gelebt hat. Ihr Haus wurde teilweise zerstört, die Familie musste im Keller leben. Die Situation verschlimmerte sich, als der Kachowka-Damm brach und die Fluten den ersten Stock ihres Hauses erreichten. Sie lebten unter schrecklichen Bedingungen, ohne verlässlichen Strom, mit eingeschränktem Internetzugang und unter ständigem Beschuss.

Wie geht es dem Mädchen jetzt?

R. Jurtschischin: Das Mädchen floh schliesslich mit ihrer Mutter über die russische Grenze via Belgrad nach Lwiw. Ihr Vater blieb zurück. Sie wissen bis heute nicht, ob er noch lebt. Das Mädchen hat begonnen, in einem Smartphoneshop in Lwiw zu arbeiten. Manchmal gehen ihr viele Gedanken auf einmal durch den Kopf. Sie erinnert sich an das Geräusch, wenn Soldaten ihr Maschinengewehr laden. Sie ist traumatisiert und hat Flashbacks. Deshalb nimmt sie Antidepressiva.

Wie behandeln Sie Kinder, die unter einem Kriegstrauma leiden?

R. Jurtschischin: Zuerst hören wir ihre Geschichten an, dann bestimmen wir die Therapie. Diese kann von Psychotherapie bis hin zu Medikamenten reichen. Je nachdem, wie belastbar das Kind ist und welche Bedürfnisse es hat. Manche Kinder sprechen gut auf traumafokussierte Therapien an. Je nach Art und Intensität des Traumas wenden wir auch andere Ansätze an. Haben die Kinder nur einen Schock über kurze Zeit erlebt, machen sie rasch Fortschritte. Hat der Schock angehalten, etwa weil sie unter Besatzung gelebt haben, dauert die Therapie länger.

Wie hat sich die Situation mit dem Verlauf des Kriegs verändert?

R. Jurtschischin: Am Anfang war es wie ein Tsunami. Tausende von Kindern und Erwachsenen kamen mit den Zügen nach Lwiw. Einige zogen über die Grenze nach Europa weiter, andere blieben. Auch wir wurden von dieser Welle überrollt.

Sie arbeiteten damals noch in einem anderen Spital. Wie kam Ihr Team mit der ersten Welle zurecht?

R. Jurtschischin: So gut es eben möglich war. Niemand hat mit einem Krieg und traumatisierten Kindern gerechnet. Zuerst wussten wir nicht, wie wir damit umgehen sollten. Wir haben Tag und Nacht gearbeitet.

Vorletztes Jahr haben Sie die Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie gegründet. Drei Psychiater behandeln unter Ihrer Leitung täglich vierzig Kinder. Wie schaffen Sie das?

R. Jurtschischin: Indem wir viel arbeiten. Jeder macht Überstunden. Wenn es einen Fall gibt, muss man ihn annehmen. Vor dem Krieg und der Covid-19-Pandemie gab es 500 Psychiater in der Ukraine. Jetzt sind es 600. Auch Kollegen aus dem Westen unterstützen uns.

Haben Sie nie daran gedacht, die Ukraine zu verlassen?

R. Jurtschischin: Ich hatte ein Angebot, ich wollte das Land aber nicht verlassen. Warum sollte ich? Wer kümmert sich dann um die Kinder? Die allermeisten ukrainischen Kinder- und Jugendpsychiater sind geblieben. Wenn die Soldaten im Osten fliehen würden, wer würde uns dann verteidigen? Ihre Front ist auch unsere Front.

Wie ist die Situation in Lwiw heute?

R. Jurtschischin: Die Russen greifen uns gelegentlich mit Raketen, Marschflugkörpern oder Drohnen an. Normalerweise dann, wenn wir zur Arbeit, zur Schule oder zur Universität gehen. Dann gibt es Luftalarm. So läuft es im ganzen Land, nicht nur im Osten. Die Russen zerstören Gebäude, Schulen, Elektrizitätswerke und sogar Krankenhäuser. Ochmatdyt, das grösste Kinderspital der Ukraine, wurde von russischen Raketen getroffen. Hunderte Kinder mussten im Keller unter zerstörten Wänden und Ziegeln verharren. Andere sassen draussen mit Infusionsschläuchen. Kinder mit Nierenschäden, schweren somatischen Störungen oder anderen Krankheiten.

Was haben Sie gefühlt, als Sie diese Bilder sahen?

R. Jurtschischin: (denkt nach): Ich weiss es nicht. Ich glaube, ich war frustriert.

Liessen Sie zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Gefühle zu?

R. Jurtschischin: Nein.

Sie arbeiteten einfach weiter.

R. Jurtschischin: (bricht in Tränen aus): Ich habe nie darüber nachgedacht, wie ich mich fühlte. An diesem Tag weinte ich nicht. Erst jetzt habe ich Zeit, mich zu entspannen und zu reflektieren.

Sprechen wir über die Erfolge der Therapie. Wie baut man eine Beziehung zu einem Kind auf, das den Krieg erlebt hat?

R. Jurtschischin: In den ersten Sitzungen geht es darum, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Dann wird das Kind vielleicht in der nächsten Sitzung etwas von sich preisgeben. Wenn die Kinder das Gefühl haben, dass sie vertrauen können, werden sie Ihnen alles erzählen.

Was tun Sie, wenn Kinder ihre Eltern verloren haben? Wie können sie sich wieder sicher fühlen?

R. Jurtschischin: Wir hatten zwei Brüder aus Serhiivka, 14 und 10 Jahre alt, deren Wohngebäude nachts bombardiert wurde. Diese beiden Jungen wurden schwer verletzt und lagen im Koma. Als sie im Spital in Lwiw aufgewacht sind, musste ihnen jemand sagen, dass ihre Eltern gestorben sind. Ihre Tante und einige Psychologen kamen. Sie haben es ihnen aber nicht sofort gesagt. Es gab eine Zeit, in der niemand darüber sprach. Ich glaube, sie spürten, dass etwas nicht in Ordnung war. Als man es ihnen schliesslich erzählt hat, haben sie geweint. Viel geweint.

Wie kann man sich von solch einem Trauma erholen?

R. Jurtschischin: Mit Fürsorge und Liebe. Von der Person, die sich um sie kümmert, von Verwandten, Psychologen, Ärzten. Jeder braucht zumindest eine verlässliche Bezugsperson in seinem Leben, um wieder auf die Beine zu kommen. In diesem Fall hat die Tante die Brüder nach Grossbritannien gebracht. Jetzt gehen sie dort in die Schule. Manchmal kommen sie zurück zu uns nach Lwiw, weil sie körperliche Rehabilitation und psychologische Unterstützung brauchen.

Wenn ein Kind Sie fragt, wann der Krieg endet, was antworten Sie?

R. Jurtschischin: Dass ich es nicht weiss. Wir versuchen, gegenüber den Kindern ehrlich, aber auch sehr behutsam mit der Wahrheit zu sein. Es kommt darauf an, wie man sie einem Kind vermittelt. Man darf nicht lügen. Manchmal sind diese Kinder für ihr Alter schon sehr reif – wegen des Kriegs.

Wie reagieren Kleinkinder auf den Krieg?

R. Jurtschischin: Wir haben einen vierjährigen Jungen in Therapie. Als er drei Monate alt war, starb seine Mutter an Krebs. Er lebte mit seiner Tante in den besetzten Gebieten; unter Bombenangriffen in Schutzräumen. Dann beschloss seine neue Familie, ihn nach Lwiw zu bringen. Sie kamen zu uns, weil ein Psychologe zum Schluss kam, dass das Kind Autismus habe. Das Kind kommunizierte nicht richtig, war verschlossen, vermied Blickkontakt und spielte nur rudimentär. Aber ist es wirklich Autismus? Oder ist es Trauma nach Trauma nach Trauma? Seine neue Familie wollte ausreisen, aber wir beschlossen, dass es besser für ihn war, in Lwiw zu bleiben. Hier kannte er immerhin die Sprache. Wir starteten eine Psychotherapie. Ich hoffe, es wird ihm bald besser gehen.

Verstehen Kleinkinder die Situation?

R. Jurtschischin: Sie verstehen sie auf ihre Weise. Sie spielen mit selbst gebastelten Waffen, sie spielen Krieg. Kinder wiederholen, was sie im Leben sehen, was sie in den Nachrichten sehen, was sie von Erwachsenen hören. Sie imitieren mit dem Spielen ihre Umgebung. Manchmal denken sie, der Krieg sei ihre Schuld.

Warum?

R. Jurtschischin: Kleinkinder mit besonderen Bedürfnissen können nicht zwischen der Realität und abstraktem Denken unterscheiden. Wenn sie ein Gespräch von Erwachsenen hören, können sie das Gefühl bekommen, dass die Bedrohung sehr nahe ist. Das verängstigt sie. Sie leiden dann unter Phobien oder Depressionen. Man muss beim Medienkonsum sehr vorsichtig sein.

Wie wirken sich die sozialen Netzwerke auf die Jugend in der Ukraine aus?

R. Jurtschischin: Kinder haben Zugang zu vielen Kanälen, auf denen sie Raketeneinschläge und Explosionen verfolgen können. Sie schauen Nachrichten, sehen schreckliche Bilder von Bombardierungen, Wunden, Traumata und Katastrophen. Das Problem wird zudem dadurch verschärft, dass das Onlineleben in der Ukraine zur neuen Normalität geworden ist. Viele Kinder lernen im Internet, knüpfen dort Kontakte und werden dort mit Kriegsinhalten konfrontiert. Dies hat eine zutiefst traumatisierende Wirkung.

Eines Tages wird der Krieg vorbei sein. Werden die ukrainischen Kinder durch den Krieg widerstandsfähiger sein?

R. Jurtschischin: Ich möchte nicht, dass unsere Kinder ausgerechnet durch diese Katastrophen stark werden. Aber natürlich, sie werden stärker, widerstandsfähiger und «unbroken» sein.

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