Ukrainische Kriegsopfer: komplexe Verletzungen und hohe Keimlast
Autoren:
Dr. Christian Smolle1
Univ.-Doz. Dr. Werner Girsch1
Ao. Univ.-Prof. Dr. Michael Schintler1
Univ.-Prof. i.R. Dr. Stephan Spendel1
Ass.Prof. Priv.-Doz. Dr. Paul Puchwein2
Univ.-Prof. Dr. Lars-Peter Kamolz1
1Klinische Abteilung für Plastische, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie, verifiziertes Brandverletzten- und Handtrauma- und Replantationszentrum Graz, Universitätsklinik für Chirurgie, Medizinische Universität Graz
2Universitätsklinik für Orthopädie & Traumatologie, Medizinische Universität Graz
Korrespondierender Autor:
Dr. Christian Smolle
E-Mail: christian.smolle@medunigraz.at
Mit Waffen ausgetragene Konflikte machen die Zivilbevölkerung und auch zivile Einrichtungen zunehmend zu einem Ziel von Kampfhandlungen. Auch beim aktuellen Krieg in der Ukraine bleibt das nicht ohne erhebliche Folgen, wie dieser Bericht auf anschauliche Art und Weise zeigt.
Analysen der weltweiten Kriegsereignisse der letzten beiden Jahrhunderte haben gezeigt, dass bei gewaltsamen Konflikten die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen zunehmend auch indirektes und direktes Ziel der Kampfhandlungen wurden. Diese Entwicklung hat sich ab dem Ersten Weltkrieg abgezeichnet und sich von da an eigentlich kontinuierlich fortgesetzt. Innerhalb der ersten zwei Jahre des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sind gemäß Angaben des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte zumindest 30457 Zivilisten verwundet worden und davon zumindest 10582 tödlich. Darunter befanden sich auch zumindest 587 getötete und 1298 schwer verletzte Kinder. Immer noch werden monatlich etwa 150 Zivilisten im Rahmen der Angriffe getötet und mehr als 500 verletzt. Gleichzeitig hatten gezielte Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur auch die Zerstörung von Gesundheitseinrichtungen zur Folge: Seit dem 24. Februar 2022 wurden zumindest 59 Spitäler unwiederbringlich zerstört und 406 teilweise schwer beschädigt. Diese Zahlen entsprechen natürlich nur den dokumentierten Verlusten, während die tatsächlichen Opferzahlen noch höher sein dürften.2 Angesichts der hohen Opferzahl und der gleichzeitig stark kompromittierten Möglichkeit zur adäquaten medizinischen Versorgung ist der ukrainische Staat auch in medizinischen Belangen auf ausländische Hilfe angewiesen. Über ein EU-weites Netzwerk werden neben der Versorgung der Ukraine mit Hilfsgütern auch regelmäßig Verwundete zur medizinischen Behandlung in europäische Spitäler transferiert. Aufgrund der österreichischen Neutralität werden dabei hierzulande nur zivile Kriegsopfer weiterversorgt. In diesem Artikel möchten wir gerne unsere Erfahrungen in der Betreuung dieser Patientinnen und Patienten und die damit verbundenen Herausforderungen teilen.
Komplizierte Umstände, komplexe Verletzungen
Die Kontaktaufnahme der ukrainischen Kollegen mit unserer Abteilung erfolgte (und erfolgt noch immer) über die zentrale Koordinationsstelle im Innenministerium. In der Regel handelte es sich um Patientinnen und Patienten, die zwar rechtzeitig akut versorgt und stabilisiert werden konnten, jedoch wegen ihrer schwerwiegenden und komplexen Verletzungen und der eingeschränkten Kapazitäten vor Ort von einer weiteren definitiven Versorgung im Ausland profitieren. Aufgrund des Flugverbots für zivile Luftfahrzeuge über der Ukraine wurde der Krankentransport bis zur polnischen Grenze in den meisten Fällen bodengebunden durchgeführt, von dort erfolgte der Transport entweder weiterhin bodengebunden oder luftgebunden mit der Tyrolean Air Ambulance. Vom Flughafen Graz wurde der unmittelbare Transfer dann zumeist vom Österreichischen Roten Kreuz bewerkstelligt.
Seit Beginn des Konflikts in der Ukraine wurden insgesamt 10 Patientinnen und Patienten im Alter zwischen 2 und 43 Jahren zur Versorgung an das Universitätsklinikum Graz transferiert. Alle Patienten hatten bereits eine erste, notfallmedizinische chirurgische Versorgung in der Ukraine erhalten und wurden, sobald der Gesundheitszustand es zuließ, nach Österreich verschickt. Die mediane Zeit zwischen Verletzung und Transfer betrug 13 (2–28) Tage. Drei Patienten waren Opfer von Granatenexplosionen, fünf Patienten wurden im Zuge von Raketenangriffen verletzt und zwei weitere hatten einen Hubschrauberabsturz in nächster Nähe überlebt. Entsprechend den Verletzungsmechanismen lagen auch zumeist Kombinationen aus mehreren schweren Verletzungen vor – alleine sieben Patienten hatten durch penetrierende Traumata offene Frakturen davongetragen. Bei vier Patienten lagen Schäden an motorischen Nerven vor. Sechs Patienten hatten Brandverletzungen mit einem Ausmaß von 10–30% der Körperoberfläche, zwei Patienten hatten schwerwiegende Gewebsdefekte im Gesicht mit Verlust der oralen Kompetenz davongetragen und bei drei Patienten hatte das Trauma Amputationen von Gliedmaßen zur Folge. Bei allen außer drei Patienten lag eine Kombination aus mehreren Verletzungen vor. Tabelle 1 bietet einen Überblick über die Verletzungscharakteristika.
Tab. 1: Altersverteilung, Geschlechterverteilung und Verletzungscharakteristika; m = männlich, w = weiblich, %VKOF = % verbrannte Körperoberfläche
Hohe Keimlast mit hoher Prävalenz multiresistenter Erreger
Ein weiteres Merkmal so gut wie aller bei uns behandelten ukrainischen Kriegsopfer war die hohe Keimlast in den Wund- und Hautabstrichen mit einer auffallend hohen Prävalenz von – teils mehreren – multiresistenten Erregerstämmen.3 Dieses Phänomen wurde schon von anderen Behandlern bei Verwundeten beobachtet: Zwar können in den meisten Fällen die primär stark kontaminierten Wunden mit chirurgischen Maßnahmen und antibiotischer Therapie offenbar durchaus gut behandelt werden, allerdings führen die prekären hygienischen Umstände in den medizinischen Versorgungseinrichtungen oft unweigerlich zu einer neuerlichen Kontamination mit resistenten Erregerstämmen.4 Passend dazu konnten wir auch bei zwei Patienten, die mit bereits verheilten Wunden zur sekundären Rekonstruktion zu uns transferiert wurden, in den Screening-Abstrichen keinerlei multiresistente Erreger identifizieren. Bei den übrigen acht Patienten konnte bei 8/8 4MRGN Klebsiella pneumoniae, 6/8 4MRGN Acinetobacter baumannii und bei 3/8 4MRGN Pseudomonas aeruginosa detektieren.
Operative Therapie
Bei den bei uns behandelten Patienten waren jeweils zumindest 2, aber bis zu 7 Operationen bis zur abgeschlossenen Therapie erforderlich (4,5 Operationen im Median). Zwei Patienten erhielten eine sekundäre Tracheotomie wegen respiratorischer Insuffizienz. Sechs Patienten mussten vorübergehend auf der Intensivstation behandelt werden. Alle bis auf einen Brandverletzten bedurften Spalthauttransplantationen, und bei allen Brandverletzungen wurden die Wunden wegen der hohen Keimlast mit dezellularisierter Fischhaut präkonditioniert. Bei drei Patienten waren Revisionseingriffe an den Extremitäten zur offenen Frakturreposition und Osteosynthese mittels interner oder externer Devices erforderlich (beispielgebend Abb. 1–4). Bei zwei Patienten wurden Neurolysen durchgeführt, eine Patientin erhielt eine Nervenrekonstruktion mit Nerveninterponaten. Ein Patient erhielt einen freien Gewebetransfer. Die mediane Aufenthaltsdauer an unserer Abteilung war 48 (Spanne 5–130) Tage. Die teils sehr lange Hospitalisierungszeit war zum Teil auch auf die äußerst aufwendige und komplexe poststationäre Betreuung zurückzuführen, und nur in wenigen Fällen war eine Repatriierung vonseiten der Patienten erwünscht oder auch medizinisch möglich.
Abb. 1: Stark kontaminierte drittgradig offene Unterschenkelfraktur, bereits mit Fixateur externe im Herkunftsland versorgt
Abb. 2: Das Röntgen zeigt einen großen knöchernen Defekt der Tibia
Abb. 3: Dasselbe Bein nach Präkonditionierung mittels dezellularisierter Fischhaut, Revision der Fraktur und Anlage eines Hexapoden-Ringfixateurs mit laufendem Segmenttransport mittels Kallusdistraktion
Abb. 4: Röntgen der abgeschlossenen Kallusdistraktion, das transportierte Segment dockt bereits am distalen Tibiafragment an
Fazit
Der aktuelle Kriegszustand in der Ukraine stellt auch Gesundheitseinrichtungen in EU-Ländern vor neue Herausforderungen. Zwar funktioniert im Kriegsgebiet offenbar die akute traumatologische Versorgung sehr gut, in der teils langwierigen Behandlung komplexer Verletzungen stößt das Gesundheitssystem aber (nachvollziehbar) an seine Grenzen. Neben dem bunten Verteilungsmuster der oftmals äußerst komplexen Verletzungen, die chirurgischerseits vielfältiger und multidisziplinärer Lösungsansätze bedürfen, ist immer mit dem Vorhandensein potenziell relevanter multiresistenter Keime zu rechnen. Dementsprechend sollte jeder dieser Patienten auch bis zum Beweis des Gegenteils zumindest kontaktisoliert werden. Insgesamt ist zu sagen, dass die Patienten mit diesen komplexen Verletzungen von der Behandlung an Brandverletzten- und Handtraumazentren profitieren.
Literatur:
1 Atiyeh BS et al.: Military and civilian burn injuries during armed conflicts. Ann Burns Fire Disasters 2007; 20(4): 203-15 2 OHCHR: Two-Year Update - Protection of civilians: impact of hostilities on civilians since 24 February 2022. Verfügbar unter https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/two-year-update-protection-civilians-impact-hostilities-civilians-24 : zuletzt aufgerufen am 4.8.2024 3 Smolle C et al.: Management of Severe Burn Wounds Colonized With Multi-resistant Pseudomonas aeruginosa and Fusarium Using Marine Omega3 Wound Matrix in a Female Victim of War. Mil Med 2024; 189(1-2): e424-8 4 Mérens A et al.: Prevention of combat-related infections: antimicrobial therapy in battlefield and barrier measures in French military medical treatment facilities. Travel Med Infect Dis 2014; 12(4): 318-29
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