ECTRIMS: State of the Art – Serumbiomarker für PIRA
Autoren:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jens Kuhle
Dr. med. Maximilian Einsiedler
Multiple Sklerose Zentrum, Neurologische Klinik, Universitätsspital Basel
Department für Biomedizin und klinische Forschung
Forschungszentrum für klinische Neurowissenschaften und Neuroimmunologie Universität Basel
E-Mail: jens.kuhle@usb.ch
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Obwohl aktuelle Therapien die akut-entzündliche Aktivität der Multiplen Sklerose (MS) meist sehr gut behandeln, kommt es nicht selten zu einer schubunabhängigen Krankheitsprogression (PIRA). Das individuelle Risiko ist jedoch nur schwer abschätzbar, und PIRA individuell frühzeitig festzustellen, bleibt eine der grössten Schwierigkeiten bei der Behandlung der MS. Blutbasierte Biomarker nehmen hier eine zunehmend grosse Rolle ein und könnten in Zukunft zur besseren Diagnosestellung und individualisierten Therapie beitragen.
Keypoints
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NfL ist der erste validierte blutbasierte Biomarker für Krankheitsaktivität der MS und wird zunehmend auch klinisch verwendet. Ein grosser Teil des NfL-Signals wird oft durch «fokale Inflammation» getrieben.
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GFAP ist ein sehr vielversprechender Biomarker, der derzeit aber noch nicht in der Breite klinisch verwendet wird. Mit seinem prognostischen Potenzial bezüglich Progression und PIRA spielt er wahrscheinlich in der Zukunft eine wichtige Rolle als Biomarker der Krankheitsprogression.
In den vergangenen Jahren konnten grosse Fortschritte bei der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) erreicht werden, und bei den meisten Betroffenen verhindert eine medikamentöse Therapie neue Schübe und akut-entzündliche Krankheitsaktivität. Schubunabhängige Krankheitsprogression («progression independent of relapse activity», PIRA) kann dennoch auftreten und selbst bei ansonsten erfolgreich therapierten Patient:innen zu einer Zunahme der Behinderung und einer reduzierten Lebensqualität führen. Studien zeigen, dass PIRA auch bei Patient:innen mit früher schubförmiger Multipler Sklerose zu einem Gros der Verschlechterung beiträgt.1 Die Einschätzung des individuellen Risiko einer zukünftigen Krankheitsprogression in der Praxis ist jedoch herausfordernd, da spezifische Tests hierfür fehlen. Gleichzeitig entgehen den aktuellen konventionellen diagnostischen Möglichkeiten oft Zeichen der Krankheitsprogression. Hier ist die Rolle von blutbasierten Biomarkern umso wichtiger, da diese nichtinvasiven Analysen Aufschluss über das individuelle Risikoprofil bringen können. In dem folgenden Beitrag werden die für die breite Anwendung relevantesten und voraussichtlich in nächster Zeit verfügbaren Biomarker vorgestellt. Die leitende Frage ist: Wie korrelieren Serumbiomarker mit PIRA? Und können bestimmte Biomarker helfen, PIRA vorherzusagen oder Krankheitsprogression sensitiver zu detektieren?
Leichte Kette der Neurofilamente – NfL
Die leichte Kette der Neurofilamente (NfL) hat in den letzten Jahren einiges an Aufmerksamkeit als Biomarker für neurologische Erkrankungen gewonnen.2–4 NfL ist sehr spezifisch für neuroaxonale Schädigungen, allerdings unspezifisch für die Ursache des Schadens. Hiermit steht erstmals ein zuverlässiger Serumbiomarker zur Quantifizierung neuronaler Schädigung zur Verfügung.
NfL ist ein Neuronen-spezifisches Intermediärfilament und damit integraler Bestandteil des Zytoskeletts der Nervenzellen. Bei einer Schädigung des Neurons, insbesondere des Axons, wird NfL in den Liquor ausgeschüttet und passiert die Blut-Hirn-Schranke, sodass sich erhöhte NfL-Werte auch im Blut widerspiegeln. Erhöhte NfL-Werte konnten inzwischen bei einer Vielzahl neurologischer Erkrankungen gezeigt werden, wie z.B. bei Trauma, aber auch bei Alzheimerpathologie, Parkinson und Multipler Sklerose.5 Zudem ist zu beachten, dass der NfL-Spiegel im Serum mit dem Alter ansteigt. Im Alter von 20 bis 50 Jahren verdoppelt sich der NfL-Spiegel, zwischen 50 und 70 Jahren verdreifacht er sich.6Wie lassen sich dennoch anhand des NfL-Spiegels wertvolle Aussagen für die Diagnose und Überwachung von MS-Patient:innen machen?
Zusammen mit Kolleg:innen der Schweizer MS-Kohorte (SMSC – www.smsc.ch ) haben wir hierzu die NfL-Werte von über 10000 gesunden Kontrollen erhoben und für Alter und BMI adjustierte Z Scores bzw. Perzentile generiert, die es zulassen, die ablaufende neuroaxonale Schädigung im Vergleich zu gesunden Vergleichspersonen gleichen Alters und mit gleichem BMI zu erfassen ( https://shiny.dkfbasel.ch/baselnflreference/ ).5
Diese Untersuchung lieferte interessante Einblicke. So korrelierte eine effektive Therapie mit niedrigeren NfL-Werten im Serum, die sich oftmals nicht von jenen von Gesunden unterscheiden (Z Score 0, entsprechend der 50. Perzentile). Darüber hinaus waren kürzlich zurückliegende Schübe, ein höherer EDSS-Wert, höhere Läsionslast oder auch aktive Läsionen alle unabhängig und zusätzlich zu den Therapieeffekten mit erhöhten NfL-Werten assoziiert. Wichtig ist auch, festzuhalten, dass jährlich gemessene NfL-Werte bei Betroffenen, die anderweitig einen stabilen klinischen und paraklinischen Krankheitsverlauf im letzten Jahr gezeigt hatten (NEDA-3), in der Lage waren, zusätzliche Krankheitsaktivität bei einem Teil der Betroffenen zu detektieren, die dann im Folgejahr auch signifikant mehr Krankheitsaktivität erlitten. Diese wichtigen Resultate konnten unabhängig in der schwedischen MS-Kohorte validiert werden.6
Wie verlässlich ist NfL generell als Marker für eine Progression, wie wirsie heutzutage messen, also vor allem basierend auf EDSS-Messungen?
Hier zeigen die Daten auf dem Gruppenlevel signifikante Zusammenhänge, wobei für individuelle Anwendung mit dieser spezifischen Indikation zusätzliche Marker hilfreich wären.7 Ein hoher Z Score ist jedoch ein hochsignifikanter Prädiktor für zukünftige Schübe unter bestehender Therapie, wie wir in diesem Jahr auch auf dem ECTRIMS-Kongress präsentierten (HR: 1,8 [1,27–2,54], p<0,001).8 Dies steht im Gegensatz zu Cut-offs basierend auf Absolutwerten, die die beschriebene Altersabhängigkeit nicht berücksichtigen und somit zum Signalverlust in dieser Anwendung führen.
Mithilfe dieser Daten und Formeln haben wir eine Onlineapplikation erstellt, mit der Kliniker:innen niederschwellig die ZScores bzw. die Perzentile auf Basis der gemessenen Serumwerte, des BMI und des Alters berechnen können. Die App ist unter folgendem Link aufrufbar: https:/shiny.dkfbasel.ch/baselnflreference/ . Sie findet inzwischen breite internationale Anwendung.
Saures Gliafaserprotein (GFAP)
Das saure Gliafaserprotein ist ebenfalls ein Strukturprotein und kommt ganz überwiegend in den Astrozyten vor. Die Astrozyten spielen essenzielle Rollen im Stoffwechsel der Synapsen und sind an neuroimmunologischen Antworten beteiligt. Bei Krankheitsaktivität steigt der GFAP-Spiegel daher an, weshalb GFAP als Marker für Astrozytenaktivierung, -proliferation und -schaden gesehen wird. Für GFAP-Werte im Serum gibt es ebenfalls eine starke Korrelation mit dem Alter, aber auch einen geschlechtsspezifischen Unterschied: Bei Frauen sind die GFAP-Werte um 13,2% höher als bei Männern. Auch hier konnten wir in einer ähnlich grossen Kohorte Normwerte generieren, um analog zu NfL auch für GFAP-Messungen normalisierte ZScores zu berechnen.9
GFAP zeigte in mehreren Studien einen Zusammenhang mit schubunabhängiger Krankheitsprogression und könnte daher genutzt werden, um die Vorhersage und Detektion von PIRA zu verbessern. Derartige Biomarker könnten die Individualisierung der MS-Therapie erleichtern und den gezielteren Einsatz unterschiedlicher Medikamente erlauben. Wir konnten kürzlich zeigen, dass unter einer Behandlung mit Fingolimod oder B-Zell-Depletions-Therapie reduzierte GFAP-Werte mit einem signifikant reduzierten PIRA-Risiko innerhalb der nächsten zwei Jahre einhergingen; wohingegen dieses bei persistierend erhöhten Werten deutlich erhöht blieb.10 Diese Befunde konnten jetzt auch in einer sehr grossen Untersuchung in über 13000 Serumproben der SMSC bestätigt werden. Das Risiko der Krankheitsprogression war mit erhöhten GFAP-Werten im Serum deutlicher erhöht als mit Erhöhungen von NfL-Werten im Serum.11
Ausblick und Zukunft
Neue Biomarker dank Massenspektrometrie und anderer proteomischer Verfahren?
Individualisierte Behandlungen der Multiplen Sklerose und die Früherfassung des Therapieansprechens sind mittlerweile realistische Ziele. Hierfür können bereits jetzt NfL- und GFAP-Messungen im Blut wichtige Hilfestellungen geben. Um möglichst über NfL und GFAP hinaus relevante Biomarker für MS und insbesondere die Krankheitsprogression, als aktuell schlecht gelöstes Problem, zu finden, analysieren wir derzeit weitere Daten, insbesondere im Forschungsprojekt «MassSpecForward».Wir haben basierend auf über 16000 Visiten, gepaart mit standardisiert gesammelten Bioproben innerhalb der SMSC, MS-Betroffene mit besonders schwerem Krankheitsverlauf (insb. mit PIRA) mit MS-Betroffenen mit eher benignem Verlauf gematcht und untersuchen, ob bestimmte im Blut gemessene Marker die kommende Krankheitsprogression vorhersagen oder detektieren können. Hierfür nutzen wir weltweit neue und vielversprechende Technologien wie z.B. die Massenspektrometrie, um eine grosse Breite an möglicherweise relevanten Markern in kurzer Zeit so umfassend wie möglich zu untersuchen.
Literatur:
1 Kappos L et al.: Contribution of relapse-independent progression vs relapse-associated worsening to overall confirmed disability accumulation in typical relapsing Multiple Sclerosis in a pooled analysis of 2 randomized clinical trials. JAMA Neurol 2020; 77(9): 1132-40 2 Gaiottino J et al.: Increased neurofilament light chain blood levels in neurodegenerative neurological diseases. PLoS One 2013; 8(9): e75091 3 Kuhle J et al.: Comparison of three analytical platforms for quantification of the neurofilament light chain in blood samples: ELISA, electrochemiluminescence immunoassay and Simoa. Clin Chem Lab Med 2016; 54(10): 1655-61 4 Disanto G et al.: Serum neurofilament light: A biomarker of neuronal damage in multiple sclerosis. Ann Neurol 2017; 81(6): 857-70 5 Khalil M et al.: Neurofilaments as biomarkers in neurological disorders – towards clinical application. Nat Rev Neurol 2024; 20(5): 269-87 6 Benkert P et al.: Serum neurofilament light chain for individual prognostication of disease activity in people with multiple sclerosis: a retrospective modelling and validation study. Lancet Neurol 2022; 21(3): 246-57 7 Leppert D et al.: Blood neurofilament light in progressive multiple sclerosis: Post hoc analysis of 2 randomized controlled trials. Neurology 2022; 98(21) :e2120-e31 8 Einsiedler M et al.: Serum neurofilament light chain in multiple sclerosis: superiority of age- and BMI-corrected Z scores/percentiles over absolute cut-off values for prediction of treatment responsescores/percentiles over absolute cut-off values for prediction of treatment response. Ann Clin Transl Neurol 2025 doi: 10.1002/acn3.70149. Online ahead of print 9 Maleska M et al.: GFAP and NfL as predictors of disease progression and relapses in fingolimod treated MS patients. Brain 2025; in press. 10 Abdelhak et al.: Treatment-associated changes in serum glial fibrillary acidic protein and neurofilament light chain levels and risk of disability progression independent of relapse activity in multiple sclerosis. Präsentiert beim ECTRIMS 2024; Präsentation O131/4110 11 Benkert P et al.: Differential dynamics of sGFAP and sNfL modelled over 30 years of MS disease: association with progression independent of release activity. Präsentiert beim ECTRIMS 2025; Präsentation O021
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