Die fünf wichtigsten Forschungsergebnisse
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Die Multiple-Sklerose-Forschung ist heute so aktiv wie nie zuvor. Die fünf vielleicht wichtigsten Neuigkeiten hat Univ.-Prof. Dr. Sven Meuth, Leiter der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, zusammengestellt.
Neues zu Ätiologie & Pathogenese
In prähistorischen, menschlichen Knochenproben wurden heute bekannte MS-Risikogene verglichen. Es zeigte sich, dass das MS-Risiko vor etwa 5000 Jahren mit Völkerwanderungen aus der pontisch-kaspischen Steppe nach Europa gebracht wurde.1–4 Die MS-Gene lagen und liegen in chromosomaler Nachbarschaft zu immunologischen Genvarianten, die damals einen Selektionsvorteil durch eine bessere Immunabwehr bestimmter Erreger bedeuteten. Lebensbedingungen veränderten sich und diese vormals günstige Veranlagung für eine Überaktivierung des Immunsystems führt nun zu einer Erhöhung des MS-Risikos. Es gibt Parallelen zu einer Entwicklung in heutiger Zeit: Wahrscheinlich werden wir die aktuellen Veränderungen des Lebensstils und der Umwelt (z.B. Klima, Feinstaub) und deren Einfluss auf neurologische Krankheitsbilder erst im Verlauf verstehen.
Ocrelizumab-Therapie früh beginnen
Bezüglich der MS-Langzeitbehandlung gibt es inzwischen 10-Jahres-Daten zu Ocrelizumab (OCR), einem hochwirksamen, monoklonalen Anti-CD20-Antikörper, bei >312000 Menschen über >750000 Patient:innenjahre. Damit sind verlässliche Aussagen zur langfristigen Wirksamkeit und einem günstigen Sicherheitsprofil möglich. „Die vielleicht wichtigste Erkenntnis war, dass eine früher begonnene Therapie mit OCR zu besseren Langzeitergebnissen führt (Schubratenreduktion und weniger Behinderungen), d.h., eine initiale Therapie mit – oft auf Patient:innenwunsch –‚weniger starken‘ Medikamenten ist nur bedingt sinnvoll“, erläutert Meuth. Eine Studie zeigte, dass die Wirksamkeit von OCR schlechter ist, wenn es später eingesetzt wird.5 9-Jahres-Daten zeigen bei OCR-Erstlinientherapie bei 48,2% NEDA („no evidence of disease activity“) versus 25,7% bei im Verlauf erfolgter Umstellung von Interferon auf OCR.6 Die frühzeitige OCR-Gabe sicherte motorische Funktionen, die sonst später nicht wiedergewonnen wurden.7
Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren
Vielversprechend sind auch Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren (BTKi), die die B-Zell-Proliferation hemmen (z.B. Evobrutinib, Remibrutinib, Orelabrutinib, Tolebrutinib, Fenebrutinib).8 Der Vorteil der BTKi ist, dass es „small molecules“ sind, die anders als Antikörper das Blut verlassen können und auch in Gewebe gelangen, wo sie neben der B-Zell-Hemmung weitere Immunzellen modifizieren, wie z.B. die Mikroglia im Gehirn. Am weitesten fortgeschritten ist das klinische Studienprogramm EVOLUTION mit zwei randomisierten, doppelblinden Phase-III-Studien mit Evobrutinib.9 Diese verfehlten jedoch den primären Endpunkt (Verringerung der jährlichen Schubraten), woraus abgeleitet wird, dass positive Therapieeffekte mit klassischen Studiendesigns vermutlich gar nicht mehr gezeigt werden können. Der Grund ist, dass die Schubraten heute durch die Therapiefortschritte des letzten Jahrzehnts schon zu gering sind, um eine weitere signifikante Reduktion zu zeigen. „Für die Zukunft ist daher zu überdenken, ob die Schubrate tatsächlich einen geeigneten primären Endpunkt darstellt, wenn das eigentliche Therapieziel die Reduktion langfristiger Behinderung ist“, so Meuth.
CAR-T-Zell-Therapie
Eine hochinnovative, zielgerichtete Immuntherapie ist die CAR-T-Zell-Therapie, die prinzipiell Autoimmunerkrankungen sogar heilen kann. Sie wurde in Einzelfällen bei neurologischen Erkrankungen angewendet, die zuvor therapierefraktär waren. Das Problem sind die potenziellen Nebenwirkungen, denn das Immunsystem wird so massiv aktiviert, dass es zu einer gefährlichen generalisierten, systemischen Entzündungsreaktion kommen kann. „Nutzen und Risiken müssen gut abgewogen werden; eine CAR-T-Zell-Therapie bei MS ist nur in bestimmten Fällen geeignet“, betont Meuth.
Drei Subtypen der frühen MS
Ein weiterer Meilenstein der personalisierten Therapie war die Entdeckung von drei Endophänotypen der frühen MS.10 In einer prospektiven, multizentrischen Kohorte von mehr als 1200 therapienaiven Patient:innen mit früher MS konnten drei immunologische Subtypen der frühen MS identifiziert werden, die möglicherweise eine unterschiedliche Pathogenese haben. Jeder der drei zeigte ein anderes Muster zellulärer Signaturen und spezifische Merkmale der Immunzellkompartimente (z.B. unterschiedliche Anteile von CD4-Gedächtnis- oder CD8-T-Zellen). Das Vorhandensein der drei immunologischen Endophänotypen wurde in einer unabhängigen Validierungskohorte von 232 MS-Patient:innen bestätigt. „Da MS-Standardimmuntherapien Immunsignaturen unterschiedlich modifizieren, könnten über den Endophänotyp möglicherweise der Krankheitsverlauf und das Therapieansprechen vorhergesagt werden“, erklärt Meuth. (red)
Quelle:
Medienmitteilung der DGN vom 22. Mai 2024
Literatur:
1 Barrie W et al.: Nature 2024; 625(7994): 321-8 2 Irving-Pease EK et al.: Nature 2024; 625(7994): 312-20 3 Allentoft ME et al.: Nature 2024; 625(7994): 301-11 4 Allentoft ME et al.: Nature 2024; 625: 329-37 5 Pfeuffer S et al.: Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2023; 10(3): e200104 6 Cerqueira JJ: 75th Annual Meeting of the AAN, 22.–27. April 2023; Boston, USA: S46.002–S46 7 Weber MS et al.: 75th Annual Meeting of the AAN, 22.–27. April 2023; Boston, USA: S46.003 8 Dybowski S et al.: JAMA Neurol 2023; 80(4): 404-14 9 Barboza A: Mult Scler Relat Disord 2024; 82: 105395 10Gross CC et al.: Sci Transl Med 2024; 16(740): eade8560
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