Versorgung von über 90-jährigen Patienten mit Makrohämaturie
Autor:innen:
Dr. Magdalena Schneider1
Dr. Andreas Banner1,2
Dr. Carolin Rösch3
Prim. Univ.-Prof. Dr. Stephan Madersbacher, FEBU1,3
1 Klinik Favoriten. Wien
2 Medizinische Universität Wien
3 Sigmund Freud Privatuniversität. Wien
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Der Behandlungsbedarf hochbetagter, multimorbider Patient:innen nimmt aufgrund des demografischen Wandels zu und erfordert einen interdisziplinären, individualisierten Ansatz. Bei Entscheidungen über die Therapie für diese Altersgruppe sollte die hohe 12-Monats-Mortalität von etwa 45% berücksichtigt werden. Zudem zeigt sich, dass ein konservatives Vorgehen oft bevorzugt wird, da invasive Maßnahmen nicht immer einen Überlebensvorteil bieten.
Keypoints
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Der demografische Wandel und die steigende Lebenserwartung stellen die Urologie vor wachsende Herausforderungen – belastbare, evidenzbasierte Leitlinien im Bereich der Urogeriatrie fehlen bislang weitgehend.
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Bei hochbetagten Patient:innen mit wiederholter Makrohämaturie ist eine interdisziplinäre und sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung in Bezug auf antithrombotische bzw. antikoagulative Therapien unerlässlich.
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Geriatrische Bewertungstools wie der CSHA-CFS sollten verstärkt Anwendung finden, da sie eine wertvolle Hilfe bei der Einschätzung der individuellen Prognose hochaltriger Patient:innen bieten.
Hintergrund
Angesichts des demografischen Wandels und einer stetig steigenden Lebenserwartung gewinnt die Urogeriatrie zunehmend an Bedeutung. Besonders hochbetagte Patient:innen stellen das Gesundheitssystem vor komplexe Herausforderungen, da sie häufig unter Multimorbidität leiden und ein erhöhtes Risiko für Komplikationen aufweisen. Prognosen verdeutlichen diese Entwicklung eindrücklich: Während es in Österreich im Jahr 2010 rund 82000 Menschen im Alter von über 85 Jahren gab, wird bis 2050 ein Anstieg auf etwa 227000 erwartet – ein Zuwachs von rund 175%. Diese Altersgruppe stellt damit die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe dar.1 Während in anderen chirurgischen Fachdisziplinen – wie der Orthopädie, Herz-Thorax- oder Allgemeinchirurgie – bereits umfangreiche geriatrische Forschung betrieben wird, besteht in der Urologie ein deutlicher Nachholbedarf.2–4 Besonders bei Patient:innen über 90 Jahre sind fundierte urologische Daten rar.
Viele urologische Erkrankungen, darunter die benigne Prostatahyperplasie, Harninkontinenz und Harnblasenkarzinome, treten mit der höchsten Inzidenz bei über 80-Jährigen auf.5–7 Trotz hoher Relevanz fehlen weitgehend evidenzbasierte Leitlinien für diese Altersgruppe. Während einige uroonkologische Leitlinien mittlerweile Algorithmen enthalten, die auch betagte Patient:innen berücksichtigt, bleibt die Studienlage insgesamt lückenhaft.
Im Folgenden werden unsere Erfahrungen mit Patient:innen mit einem Alter von über 90 Jahren beleuchtet, die auf den urologischen Stationen der Klinik Favoriten, Wien, behandelt wurden. Ziel war es, Risikofaktoren sowie Therapieansätze zu identifizieren und den prognostischen Nutzen geriatrischer Scores zu untersuchen. Der Artikel umfasst Auszüge eines kürzlich zur Publikation angenommenen Manuskripts.8
Patient:innen mit über 90 Jahren auf der urologischen Station
Zwischen 2014 und 2022 wurden an der urologischen Abteilung der Klinik Favoriten, Wien, insgesamt 317 Patient:innen im Alter von über 90 Jahren stationär behandelt. Das mediane Alter lag bei 92 Jahren (IQR 91–94 Jahre), wobei Männer mit 63,1% die Mehrheit darstellten. Die Patient:innen wiesen eine hohe Anzahl an Komorbiditäten auf: 78,9% litten an arterieller Hypertonie, 76,0% an weiteren kardiovaskulären Vorerkrankungen. Häufige Komorbiditäten waren auch zerebrale Insulte (19,2%) sowie COPD (8,5%). Die medikamentöse Belastung war entsprechend hoch, mit einer medianen Anzahl von 7 Dauermedikamenten (IQR 5–9). Zwei Drittel (66,6%) der Patient:innen erhielten eine antithrombotische Therapie (Antikoagulation oder Thrombozytenaggregatiosnhemmer). Die große Mehrheit der stationären Aufnahmen erfolgte akut (ca. 85%), nur ein geringer Teil war elektiv geplant.
Makrohämaturie als häufigster Aufnahmegrund
In einer früheren Arbeit von Eredics et al war die Makrohämaturie mit knapp 43,0% nach Harnwegsinfektionen der zweithäufigste Aufnahmegrund in der Gesamtkohorte.9 In unserer erweiterten Kohorte hingegen stellte die Makrohämaturie mit 42,3% sogar den häufigsten Aufnahmegrund dar, gefolgt von Harnwegsinfektionen mit 28,7%. Das primäre Ziel unserer Analyse war die Identifizierung von potenziellen Risikofaktoren für eine stationäre Aufnahme aufgrund einer Makrohämaturie. Ein großer Anteil der Patient:innen, die aufgrund einer Makrohämaturie stationär aufgenommen wurden, nahm eine antithrombotische Therapie ein, im Vergleich zu jenen ohne Makrohämaturie (74,4% vs. 62,2%), litt an einer kardiovaskulären Vorerkrankung (82,8% vs. 71,0%), hatte eine urologische Voroperation (35,8% vs. 29,5%), eine Blasenkrebsanamnese (20,1% vs. 11,5%) oder eine Blasenentleerungsstörung (26,1% vs. 20,8%).
In der univariablen logistischen Regression zeigten sowohl eine antithrombotische Therapie (Odds-Ratio [OR]: 1,8; 95%-Konfidenzintervall [95%CI]: 1,1–2,0; p=0,023) als auch eine Blasenkrebsanamnese (OR: 1,9; 95% CI: 1,0–3,7; p=0,035) zunächst eine statistisch signifikante Assoziation mit dem Auftreten einer Makrohämaturie. Nach Korrektur für multiples Testen wurde jedoch keine statistische Signifikanz mehr erreicht (p=0,08 für beide Risikofaktoren).
Therapeutische Vorgangsweise bei Patienten mit Makrohämaturie
In der Makrohämaturie-Kohorte erhielten 63,4% einen Spülkatheter, 19,4% wurden zystoskopiert, 9,7% benötigten eine Blasenevakuation unter Narkose, 7,5% eine transurethrale Resektion der Blase (TUR-B) und 3,0% eine transurethrale Resektion der Prostata (TUR-P). Bei 24,0% wurde ein rein konservatives Vorgehen gewählt. Hinsichtlich der Diagnostik und Therapie wurde ein konservativer Ansatz verfolgt – auch vor dem Hintergrund der Studie von Eredics et al. (2021), die eine 1-Jahres-Mortalität von 45% bei stationär aufgenommenen Patient:innen über 90 Jahre beschrieb.9 Studien zeigten, dass bei hochbetagten Patient:innen nicht das Alter, sondern der funktionelle und kognitive Zustand entscheidend für den Therapieerfolg ist.9,10 Entsprechend sollte jede Behandlung individuell und unter Berücksichtigung des Gesamtzustands erfolgen.
Patient:innen bleiben 4–5 Tage, die Hälfte wird wiederaufgenommen
Die Analyse der medianen Verweildauer ergab keinen Unterschied zwischen akut (5 Tage; IQR 3-8) und elektiv aufgenommenen Patient:innen (4 Tage; IQR 2–6). Ebenso war die stationäre Aufenthaltsdauer von Patient:innen mit (5 Tage; IQR 3–7) und ohne Makrohämaturie (5 Tage; IQR 3–8) vergleichbar, bei 13% der Gesamtkohorte dauerte der Aufenthalt länger als 10 Tage. Diese kurze Verweildauer lässt sich durch ein gut organisiertes soziales Auffangnetz, bestehend aus Pflegeheimen, ambulanten Pflegediensten und sozialen Unterstützungsangeboten, erklären. 40% der Patient:innen mit Makrohämaturie wurden mit einer Dauerharnableitung entlassen, im Vergleich zu 35% der Patient:innen ohne Makrohämaturie.
Zudem wurden die Wiederaufnahmerate und das Überleben von Patient:innen über 90 Jahre mit und ohne Makrohämaturie verglichen. Bei einem medianen Follow-up von 20 Monaten (CI 95%: 16–27) lag die Wiederaufnahmerate in beiden Gruppen bei 54%. Patient:innen ohne Makrohämaturie hatten jedoch ein signifikant längeres Überleben (medianes Überleben: 32 Monate [CI 95%: 23–50] vs. 15 Monate [CI 95% 12–22], Abb.1). Allerdings war die Makrohämaturie in den meisten Fällen nicht die direkte Todesursache, häufig lagen kardiovaskuläre Erkrankungen zugrunde.
Abb. 1: Kaplan-Maier Plots für das Gesamtüberleben stratifiziert nach dem stationären Aufnahmegrund (Makrohämaturie vs. keine Makrohämaturie)
Geriatrische Scores
Zukünftig werden geriatrische Scores eine zentrale Rolle bei der objektiven Bewertung hochbetagter, multimorbider Patient:innen spielen. Obwohl zahlreiche Scores etabliert wurden, hat sich in der Urologie bisher keiner flächendeckend durchgesetzt. An unserer Abteilung wurde zur objektiven Einschätzung des geriatrischen Status der CSHA-CFS (Canadian Study of Health and Aging-Clinical Frailty Score) eingesetzt. Dieser Score bewertet den Allgemeinzustand von Patient:innen auf einer Skala von 1 („sehr fit“) bis 9 („terminal erkrankt“) anhand einfacher Piktogramme.11
Patient:innen mit Makrohämaturie und einem CSHA-Score ≥6 (i.e. deutlich eingeschränktem Allgemeinzustand) hatten eine deutlich schlechtere Prognose (Abb.2, orange Kurve, medianes Überleben 15 Monate [CI 95%: 9–28]). Im Gegensatz dazu wiesen Patient:innen ohne Makrohämaturie und mit einem niedrigeren CSHA-Score (0–5) die geringste Mortalität auf (Abb. 2, dunkelblaue Kurve, medianes Überleben 38 Monate [CI 95%: 26–66]).
Abb. 2: Kaplan-Maier-Plots für das Gesamtüberleben stratifiziert nach Aufnahmegrund (Makrohämaturie vs. keine Makrohämaturie) und CSHA-CFS (0-5 vs. ≥ 6)
Der CSHA-CFS erwies sich in der Gesamtkohorte als Prädiktor für die 1-Jahres-Mortalität. In der univariablen Cox-Regression hatten Patient:innen mit einem CSHA-CFS ≥6 ein signifikant höheres Risiko, innerhalb eines Jahres zu versterben (Hazard-Ratio [HR]: 1,6; 95% CI: 1,1–2,5; p=0,03). Für die Subgruppe der Patient:innen mit Makrohämaturie (46/136 Todesfälle, 34,3%) war der CSHA-CFS hingegen kein signifikanter Prädiktor für die 1-Jahres-Mortalität (HR: 0,9; 95%CI: 0,5–1,6; p=0,7).
Diese Ergebnisse decken sich mit einer Studie aus dem Jahr 2005. Diese zeigte, dass der CSHA-Score (damals mit 7 Stufen) mit dem Frailty-Index korreliert und ein höherer Score mit einem erhöhten mittelfristigen Risiko zu sterben assoziiert ist.12 Eine Untersuchung aus dem Jahr 2018 analysierte alternativ die ASA-Risikoklassifikation in Bezug auf Patient:innen über 90 Jahre mit Blasenkarzinom. Dabei wurde festgestellt, dass nicht nur das Tumorstadium, sondern auch der ASA-Score einen signifikanten Einfluss auf das Gesamtüberleben hatte.13 Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass eine fundierte Prognoseeinschätzung stets eine ganzheitliche Betrachtung des aktuellen Gesundheitszustands der Patient:innen erfordert. Die Integration solcher Scores könnte in der urologischen Praxis zukünftig zu verbesserten Therapieentscheidungen beitragen.
Fazit
Die Urologie steht vor der Herausforderung, einer immer älter werdenden Gesellschaft gerecht zu werden. Hochbetagte Patient:innen benötigen eine individuell angepasste, interdisziplinäre Versorgung. Unsere Analyse zeigt, dass Makrohämaturie eine der häufigsten Ursachen für stationäre Aufnahmen bei über 90-jährigen Patient:innen ist. Auch wenn eine statistische Signifikanz bei Risikofaktoren nicht durchgängig nachgewiesen werden konnte, bestehen klinisch relevante Zusammenhänge – insbesondere in Bezug auf antithrombotische Therapie und urologische Vorerkrankungen.
Geriatrische Scores wie der CSHA-CFS bieten wertvolle Prognoseinformationen und sollten vermehrt Anwendung finden. Bei Therapieentscheidungen sind sowohl das funktionelle als auch das kognitive Profil der Patient:innen zu berücksichtigen – nicht allein das chronologische Alter.
Die hohe 12-Monats-Mortalität von etwa 45% erfordert ein Umdenken in Richtung konservativer, aber gleichzeitig patientenzentrierter Therapiekonzepte. Weitere prospektive Studien sind notwendig, um evidenzbasierte Leitlinien für die urologische Betreuung Hochbetagter zu entwickeln und so die Versorgungsqualität nachhaltig zu verbessern.
Literatur:
1 United Nations, Department of Economics and Social Affairs, Population Division, Population Estimates and Projections Section: World population prospects, the 2010 revision. Population by Age groups - both sexes. Medium-fertility variant, 2010–2100 cited 23/05/2013- Available from URL: http://esa.un.org/wpp/ ExcelData/population. html 2 Yohe N et al.: Complications and readmissions after total hip replacement in octogenarians and nonagenarians. Geriatr Orthop Surg Rehabil 2020; 11: 2151459320940959 3 Assmann A et al.: Cardiac surgery in nonagenarians: not only feasible, but also reasonable? Interact Cardiovasc Thorac Surg 2013; 17(2): 340-3 4 Kim T I et al.: Surgery for the very old: are nonagenarians different? Am Surg 2020; 86(1): 56-64 5 Schulman C C et al.: The aging male: a challenge for urologists: Curr Opin Urol 2000; 10(4): 337-45 6 Schultzel M et al.: Late age (85 years or older) peak incidence of bladder cancer. J Urol 2008; 179(4): 1302-6 7 Bloom DE et al.: Global population aging: facts, challenges, solutions & perspectives. Daedalus 2015; 144(2): 80-92 8 Banner A et al.: Gross hematuria in nonagenarians admitted to a urological ward: prevalence, predictors, and outcomes. World J Urol 2025; 43(1): 615 9 Eredics K et al.: The future of urology: nonagenarians admitted to a urological ward. World J Urol 2021; 39(9): 3671-6 10 Chedrawe E et al.: Urologic care of nonagenarians A retrospective chart review. Can Urol Assoc J 2024; 18(10): 321-8 11 https://link.springer.com/article/10.1007/s11377-021-00552-0 12 Rockwood K et al.: A global clinical measure of fitness and frailty in elderly people. CMAJ 2005; 173(5): 489-95 13 Eredics K et al.: Bladder cancer in nonagenarians: a multicentre study of 123 patients. BJU Int 2018; 122(6): 1010-5
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